Voraussetzung ist ein gemeinsamer Datenpool

Digital Twins als digitaler Kern neuer Unternehmensprozesse

28.08.2019
Von 
Timo Fürtsch ist Head of Business Innovation bei Mackevision, einem Accenture-Interactive-Unternehmen.
Der Digital Twin hat im B2B-Bereich bei der Herstellung komplexer Produkte und Anlagen längst ein festes Zuhause gefunden. Jedoch spielt ein digitaler Zwilling auch im B2C-Bereich seine Stärken aus: Er senkt nicht nur die Kosten und steigert die Effizienz, sondern optimiert auch das Product Lifecycle Management.
Damit Analysen des Digital Twins funktionen, müssen Silostrukturen aufgebrochen werden und eine abteilungsübergreifende Vernetzung stattfinden.
Damit Analysen des Digital Twins funktionen, müssen Silostrukturen aufgebrochen werden und eine abteilungsübergreifende Vernetzung stattfinden.
Foto: Profit_Image - shutterstock.com

Bislang konzentrieren sich die Anwendungsfelder des digitalen Zwillings (Digital Twin) vor allem auf B2B-Bereiche wie den Autobau, Flugzeugtriebwerke oder Windräder. Das digitale Spiegelbild des Produkts/der Produktion als 3D-Modell dient dabei der Simulation für Tests und zur Validierung von Eigenschaften - auch unter Berücksichtigung bestimmter Kundenspezifikationen. Zudem lassen sich Fehler- oder Störquellen mithilfe des Zwillings frühzeitig erkennen und beheben.

Jedes Produkt kann einen virtuellen Zwilling haben

Der Digital Twin für Simulations- und Testzwecke ist weit verbreitet. Er existiert bereits vor dem physischen Produkt. So gibt es etwa Einen virtuellen Motorblock, mit dem Entwickler bei Daimler das Verhalten von Motorteilen bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten simulieren. Das Potenzial von digitalen Spiegelbildern geht jedoch weit über Simulationen hinaus. Wenn Produkte komplett virtuell entwickelt werden, lassen sie sich auf viele Leistungsparameter und für verschiedene Märkte konfigurieren und auch personalisieren.

Im Prinzip könnten so wie der Motorblock jedes Produkt und jede Komponente als digitaler Zwilling abgelegt werden - auch eine Tafel Schokolade oder ein Haarfärbemittel. Das Spiegelbild wird dabei zum digitalen Kern von Unternehmensprozessen - von der Entwicklung über den Vertrieb bis hin zum Service. Somit wird nicht das physische Produkt, sondern sein digitaler Kern in Zukunft die größte Wertschöpfung generieren.

Daten als Grundlage

Basis des digitalen Spiegelbilds sind nach wie vor die 3D-Modelldaten, die mit einer CAD-Software entworfen wurden. Ein Mehrwert erschließt sich erst dann, wenn diese grafische Abbildung mit weiteren Daten aus Prozessen in Produktion, Vertrieb, Marketing, Logistik, Sales oder auch aus sozialen Netzwerken angereichert wird. Damit kann nicht nur der Lebenszyklus von Anlagen oder Maschinen im Internet of Things (IoT) verlängert werden, sondern es lassen sich auch Fehlersuche und Behebung beschleunigen sowie die Kundenbeziehung verbessern.

Beispiel Konsumgüter

Basis des digitalen Spiegelbilds sind 3D-Modelldaten, die mit eine CAD-Software entworfen werden.
Basis des digitalen Spiegelbilds sind 3D-Modelldaten, die mit eine CAD-Software entworfen werden.
Foto: Chesky - shutterstock.com

Dazu ein einfaches Beispiel aus der Konsumgüterindustrie: Ein Fernseher hat alle Qualitätskontrollen bestanden - trotzdem kommt er defekt beim Kunden an. Was ist passiert? Diese Frage lässt sich mit der Analyse, der im Digital Twin hinterlegten Logistikdaten beantworten. Es stellt sich heraus, dass sich das Gerät auf einem Frachter befand, der in einen Sturm geriet und die Container durchgeschüttelt wurden.

Damit Analysen des Digital Twins wie skizziert funktionieren und einen echten Mehrwert für Unternehmen und Kunden schaffen können, ist es unumgänglich, dass Silostrukturen aufgebrochen werden und die Vernetzung abteilungsübergreifend stattfindet. Eine reibungslose Kommunikation zwischen allen Unternehmensbereichen ohne Medienbrüche ist nicht nur Grundvoraussetzung für die Implementierung eines Digital Twins, sondern für sämtliche digitale Transformationsprojekte erforderlich.

Durch die umfassende Vernetzung fungiert der Digital Twin als zentraler Datenhort zu einem bestimmten Produkt, aus dem alle Abteilungen die für sie wichtigen Informationen schöpfen können - in Echtzeit und über den gesamtenLebenszyklus. Aber auch darüber hinaus, um beispielsweise bei abgekündigten Produkten den vereinbarten Support weiter zu leisten oder entsprechende Recyclingmaßnahmen durchführen zu können.

Wie sinnvoll ist der Zwilling einer Shampoo-Flasche?

Das Potenzial des digitalen Zwillings hat indes noch mehr zu bieten. Der "digitale Zwilling der Performance" im IoT wird beispielsweise über Sensoren laufend mit Daten aus dem Betrieb von Produkten oder Produktionsanlagen gespeist. Damit lassen sich permanent Zustandsdaten aus Maschinen verfolgen, um vorausschauende Instandhaltungsstrategien zu realisieren und Ausfallzeiten zu verhindern.

Im Marketing bietet der Zwilling ebenfalls Vorteile. Denn bei der Variantenvielfalt mit unterschiedlichen Sprachen, Verpackungen oder Zutaten von Produkten wie Schokolade oder Shampoo in den einzelnen Ländern besteht ein hoher Anpassungsbedarf bei der Vermarktung. Sind nach dem Digital-Twin-Prinzip alle Informationen und Bilder hinterlegt, lässt sich der manuelle Aufwand deutlich reduzieren, Prozesse beschleunigen und Kosten senken. Denn werden Produktbilder mit Informationen wie geplanten Verkaufszahlen oder Vertriebsaktionen gefüttert, lässt sich der Erfolg oder Misserfolg im Marketing und das Kunden-Feedback, beispielsweise aus sozialen Netzwerken, zu den Entwicklern zurückspielen.

PLM heute: Der Digital Thread

Das Product Lifecycle Management (PLM) bietet einen weiteren wichtigen Anwendungsbereich für den digitalen Zwilling. Zwar wird in der Mehrzahl der deutschen und europäischen Unternehmen das PLM noch manuell oder nur mit einfachen Tools eingepflegt, allerdings stößt klassisches Management aufgrund stetig steigender Variantenvielfalt und immer kürzerer Lebenszyklen von Produkten an seine Grenzen. Automatisierte Prozesse, schnelle Reaktion auf Feedbacks und agile Entwicklungen sind Anforderungen, denen ein Stand-alone-PLM-System kaum mehr gerecht wird. Nötig sind heute Architekturen, die auf konsistenten, aber erweiterbaren Stamm- und Strukturdaten basieren, aber unabhängig und flexibel an veränderte Prozesse und Organisationsstrukturen anpassbar sind. Hier setzt der digitale Zwilling an.

Mit seinem umfangreichen Datenpool ist er die Basis für den "Digital Thread": den "roten Faden", der Informationen aus unterschiedlichen Quellen im digitalen Spiegelbild zusammenführt. Er integriert den Datenfluss, der durch alle Abteilungen verläuft, mit denen ein Produkt oder eine Dienstleistung interagiert. Das heißt: Die Daten stammen aus verschiedenen Punkten der Wertschöpfung oder daran indirekt beteiligten Systemen wie Lieferketten oder Logistik.

Dieser permanente Datenfluss im Digital Thread liefert laufend wichtige Informationen über den Zustand eines Produkts und auch darüber, wie es im Alltag genutzt wird. Die Vernetzung der Bereiche im Digital Thread - von Forschung und Entwicklung (F&E) bis zur Verwendungsphase - über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts hebt den digitalen Zwilling damit auf eine Zeitachse: Schließlich begleitet er sein physisches Gegenstück ständig, nicht nur im Engineering und in der Produktion. Und in der Daten- und Informationsdrehscheibe "Digital Thread" werden permanent Rückkopplungen gesammelt, von denen sowohl Hersteller als auch Anwender und Kunden profitieren. Denn mit dem Feedback lassen sich Maschinen im laufenden Betrieb optimieren, Dienstleistungen verbessern oder neue Geschäftsmodelle sowie Produkte entwickeln.

Digital Twin: Wie anfangen?

Unternehmen sollten klein anfangen. Zu empfehlen ist ein Prozedere aus der agilen Software-Entwicklung: das Minimum Viable Product. Idealerweise erfolgt der Start zunächst klein - mit einem Produkt oder einer Produktgruppe für die Erstellung eines digitalen Zwillings und dem Hinterlegen aller Daten, von der Entwicklung über den Vertrieb bis in den Gebrauch. Das ist der optimale Ausgangspunkt für die Erweiterung des Digital Thread.