Gartner IT Symposium Xpo in Barcelona

Digital Twin – die Einführung ist kein Hexenwerk

15.11.2019
Von 
Karin Quack arbeitet als freie Autorin und Editorial Consultant vor allem zu IT-strategischen und Innovations-Themen. Zuvor war sie viele Jahre lang in leitender redaktioneller Position bei der COMPUTERWOCHE tätig.
Auf Gartners Symposium in Barcelona waren die Digitalisierung im Allgemeinen und der „Digital Twin“ im Besonderen Kernthemen. Urheberrechte an dem Begriff hat aber nicht Gartner, sondern die NASA.
  • Die Mehrheit der IoT-erfahrenen Unternehmen wird bis Ende 2021 auch Digitale Zwilinge eingeführt haben
  • Notwendig sind eine Runtime-Umgebung, ein Entwicklungs-Toolset und jede Menge APIs für die Anbindung externer Verarbeitungssysteme
  • Gartner empfiehlt, sich nicht allzu viele strategische Gedanken zu machen und einfach mal anzufangen
Wie in jedem Jahr war das IT-Symposium von Gartner in Barcelona bestens besucht.
Wie in jedem Jahr war das IT-Symposium von Gartner in Barcelona bestens besucht.
Foto: Gartner

Bei der Raumfahrtbehörde diene der ­digitale Zwilling dazu, die Umgebungssysteme einer startklaren Rakete zu überwachen, erläuterte Gartner-Analyst und Vice President Research Benoit Lheureux. Man habe vermeiden wollen, dass ein Start abgebrochen werden muss, weil beispielsweise der Aufzug nicht funktioniert oder der Treibstoff nicht rechtzeitig verfügbar ist. Deswegen sei aber noch lange nicht die komplette Funktionalität des Fluggeräts in ein virtuelles Abbild übertragen worden. Vielmehr galt es, nur die Kriterien abzubilden, die das pünktliche Abheben beeinträchtigen könnten.

"Ich möchte den Begriff Digital Twins entmystifizieren", sagte Lheureux: "Das ist doch nur ein Etikett, das man einer bestimmten neuen Art von Enterprise-Software anheftet." Einer Software, die sich nicht als Monolith, sondern in Form von Microservices präsentiere, die ohne aufwendige Modelle und ohne Stücklisten auskomme und die sich als Teil eines Ökosystems verhalte. Eng verwandt sei der digitale Zwilling mit dem Internet of Things. Er ist die Anwendung, die dem IoT Leben einhaucht.

Wer IoT macht, braucht den Digital Twin

Deshalb sind es die Unternehmen, die sich mit IoT beschäftigen, die auch den Digital Twin oben auf ihrer To-do-Liste stehen haben. Gartner befragte in diesem Jahr rund 2850 CIOs nach ihren Erfahrungen und Plänen mit Digital Twins. Ein Viertel der Befragten hat demnach eine solche Software schon im Einsatz oder will sie im Lauf der nächsten zwei Jahre in Betrieb nehmen.

Ganz anders sieht das in Betrieben aus, die ­bereits IoT nutzen. Von ihnen hat jeder vierte (26 Prozent) schon Digital Twins implementiert, 59 Prozent wollen das spätestens im Herbst 2021 getan haben. Da bleiben unterm Strich 15 Prozent, die offenbar gute Gründe ­haben, sich nicht mit dem Thema zu beschäf­tigen. "Die Gruppe der IoT-Anwender und die der Digital-Twin-Nutzer ist nahezu deckungsgleich", bestätigt Lheureux.

Wozu der digitale Zwilling gut ist

Der Gartner-Analyst definierte den Digital Twin als "eine virtuelle Repräsentation einer Sache, einer Person oder eines Prozesses zum Zweck eines optimierten Geschäftsergebnisses". Dazu notwendig sind zunächst ein Digital-Twin-Objekt und ein zweckbezogenes ­Modell davon. Die Objektdaten - oder besser: "Werte" - werden in aller Regel von Sensoren erfasst und an die zentrale Softwareapplika­tion weitergeleitet. Auf dem Server muss für jede Ausprägung des Objekts, also für jeden einzelnen Gegenstand, eine eigene Instanz ­implementiert sein.

Auch Prozesse sind mit Digital Twins optimierbar

Tatsächlich kann das Objekt statt einer leblosen Sache auch ein Mensch sein. Als Beispiel führte Lheureux in seiner Präsentation die im kanadischen Ontario beheimatete Krankenhauskette Hamilton Health Sciences an. Dort werden die Herzdaten infarktgefährdeter Patienten mit Hilfe eines digitalen Zwillings überwacht, um die Anzeichen von Notfällen ("Code Blue") so frühzeitig zu erkennen, dass Gegenmaßnahmen noch greifen.

Laut Lheureux sind seit der Einführung des ­Digital Twin in der Klinikpraxis die Code-Blue-Fälle um drei Fünftel zurückgegangen, was mit einiger Sicherheit an der um fast 90 Prozent verringerten Reaktionszeit liegen dürfte. Unter dem Strich sinken so die Krankenhauskosten pro Bett und letztlich auch die Versicherungsbeiträge.

Mehr über Gartners Prognosen für 2020 lesen Sie hier:

Auch Prozesse lassen sich mit digitalen Zwillingen beobachten und optimieren. Das Unternehmen muss dazu die relevanten Stellschrauben in den Abläufen definieren und die dort erzeugten Performance-Werte abgreifen. Auf diese Weise wird der "Digital Twin of Organi­zation" (DTO) zum Werkzeug eines neuartigen, iterativen und in seinen Auswirkungen transparenten Business Process Re-Engineering (BPR). Daneben lassen sich die einfach gestrick­ten ("diskreten") Twins auch zu komplizierteren Mustern kombinieren ("Composite Twins"), um verschiedene Einflussfaktoren gleichzeitig zu erfassen. Das empfiehlt sich vor allem in ­Situationen oder Abläufen, die definitiv von mehreren, deutlich unterscheidbaren Kriterien bestimmt werden.

Die fundamentalen Bausteine

Damit aus dem digitalen Zwilling eine Business-taugliche Anwendung wird, sind neben den "Rohdaten" vom Objekt und dem Digital-Twin-Objekt beziehungsweise dem Objektportfolio drei weitere Bausteine nötig: eine Runtime-Umgebung, ein Entwicklungs-Toolset und jede Menge Anwendungsprogrammier-Schnittstellen (APIs) für die Anbindung externer Verarbeitungssysteme oder Daten.

Die Runtime-Umgebung kann eine Third-Party-Applikation sein, beispielsweise GE Predix, PTC von Windchill oder SAP Predictive. Die Hälfte der von Gartner befragten CIOs sagte, ihre Digital Twins seien unter dem Mantel von Business-Anwendungen der neuen Generation ins Unternehmen geschlüpft. 40 Prozent gaben an, sie hätten sich ihre digitalen Zwillinge vom IoT-Lieferanten maßschneidern lassen, 37 Prozent vertrauten in dieser Beziehung lieber ihrem IT-Service-Provider. Als Runtime-Umgebung für Digital Twins eignen sich ebenfalls IoT-Platt­formen wie die von Siemens, Bosch, Microsoft ("Azure IoT") oder PTC ("ThingWorx"). Aber auch Container-Systeme wie Microsoft Azure oder SAP Leonardo empfehlen sich hier.

Sie interessieren sich für Digital Twins? Mehr dazu finden Sie hier:

Werkzeugkästen für die Entwicklung von Digital Twins haben alle in diesem Umfeld tätigen Anbieter in petto. Über APIs lassen sich auch Daten aus dem gesamten Ökosystem des Unternehmens sowie Verarbeitungsprogramme für Analyse und Simulation integrieren. "Den Ist-Zustand zu kennen ist gut", sagt Lheureux, "aber interessant wird es erst bei den Vorhersagen."

Nicht ohne eine intelligente Governance

Um ein Digital-Twin-System effektiv und effi­zient betreiben zu können, ist eine intelligente Governance unabdingbar. Vor allem, weil sinnvollerweise auch Kunden, Partner und fremde Systeme in die Umgebung involviert sind. Beispielsweise muss das Daten-Management klar geregelt sein, unter anderem: Wer liefert welche Daten und bekommt dafür welche Informationen? Wem gehören die Daten? Um redundante Arbeit zu vermeiden, sind, so Lheureux, wiederholbare Muster und eine "Choreografie" für die Kommunikation mit den Sensoren zu definieren.

Wer die digitale Transformation vor der Brust hat, wird um digitale Zwillinge kaum herumkommen, stellt der Gartner-Analyst klar. Warum also nicht gleich damit anfangen? Dazu sei erst einmal nicht mehr nötig als eine "Drei-Punkte-Liste" mit den dringendsten Business-Prioritäten. Dann gelte es, die nötigsten Sensoren anzubringen: "Bloß keine ausgefeilte Architektur entwerfen, das dauert zu lange."

Die Ausführung könne dann Schritt für Schritt vorangetrieben werden, beteuert Lheureux. Schließlich sei es sogar möglich, den digitalen Proxy und eine Struktur aus Microservices zusammen mit 20 Jahre alten SAP-Anwendungen zu nutzen: "Bauen Sie eine Box um das SAP-System herum, und kommunizieren Sie - zusätzlich zum alten User Interface - über APIs mit der Legacy-Anwendung." (hv)