"Dieser Artikel wird schon seit Jahren nicht mehr produziert. Inzwischen sind keine Ersatzteile mehr vorrätig". Eine kurze Antwort des Krups Kundendienstes erklärte meinen 3Mix 8000 Handrührer zum Elektroschrott. Nachdem der Kunststoff-Einschaltknopf des Mixers beim Anrühren einer Schokoladencreme mit unangenehmem Geräusch seinen Dienst quittierte, wurde auch die Hoffnung auf eine Reparatur vom Hersteller zerstört. Eigentlich hatte ich fest damit gerechnet, ein Ersatzteil zu bekommen. Schließlich handelt es sich um ein Markengerät der SEB Gruppe, die auf ihrer Web-Seite deutlich auf die Reparaturfähigkeit der Geräte und die damit verbundene Müllvermeidung hinweist. Danach sollen 94% teilweise und 68% der Produkte sogar vollständig reparierbar sein. Mein Mixer gehörte nicht dazu.
Vor wenigen Jahren wäre die Geschichte an dieser Stelle zu Ende gewesen und der Mixer im Elektroschrott gelandet, obwohl nur ein Bauteil für wenige Euro-Cent defekt ist. Ich hätte über die - vermutet - geplante Obsoleszenz der Hersteller geschimpft und der lokale Elektromarkt ein Neugerät verkauft.
Es ist anders gekommen, weil ich wenige Tage vorher das Buch Makers: Das Internet der Dinge: die nächste industrielle Revolution von Chris Anderson gelesen hatte. Darin beschreibt Anderson eine nahe Zukunft, in der jeder mit Hilfe freier Software und internetbasierter Dienste zu geringen Kosten Produkte konstruieren und fertigen kann. Mein Ehrgeiz war geweckt. Wäre es möglich, das defekte Bauteil selbst zu konstruieren und fertigen zu lassen? Und wenn ja, zu welchen Kosten?
Und eine noch viel interessantere Frage stellte sich mir: welche Umsätze lassen sich Unternehmen entgehen, wenn sie die von Anderson beschriebene Vision der Verknüpfung von Bits und Atomen ignorieren? Besteht die Chance - aus Sicht der produzierenden Unternehmen das Risiko - das die hochgelobte Industrie 4.0 in vielen Fällen von der individuellen Industrie 4.0 überholt wird bevor sie richtig beginnt? Die Computerwoche berichtete darüber, dass die Bundesregierung die Digitalisierung der Industrie zum Technologieziel ausgerufen hat. In einem aktuellen Beitrag nennt Bitkom-Experte Wolfgang Dorst fehlende einheitliche Zugriffsverfahren auf Informationen als Gefahr, denn: "Solange es keine Standards gibt, investieren die Unternehmen nicht". Geschätzter Kollege Dorst, die Gefahr ist noch viel größer. Die Unternehmen laufen Gefahr die Kontrolle über ihre Produktionsketten zu verlieren.
Ein Ergebnis meines Selbstversuchs vorweg: ich war erstaunt, wie einfach die individuelle Industrie 4.0 realisiert werden kann. Wenige Schritte sind zur Umsetzung erforderlich:
1.Beschaffung einer kostenfreien CAD-Software
2. Konstruktion der digitalen Version des zu ersetzenden Bauteils
3. Upload der Produktionsdatei und Fertigung des Ersatzteils im 3D-Druck
4. Einbau des Ersatzteils
Beschaffung einer kostenfreien CAD Software
Das Internet ist voll mit leistungsfähigen CAD Programmen. Dank der Open Source-Bewegung hat sich auch in diesem Markt einiges geändert. CAD Software, die bis vor wenigen Jahren vierstellige Beträge in der Anschaffung erforderte, steht heute kostenfrei zur Verfügung. Für meinen Selbstversuch verwendete ich das Programm 123D Design von Autodesk. Der Hersteller der Profisoftware AutoCAD hält mit 123D eine Sammlung kostenfreier Produkte zur semi-professionellen Konstruktion und Herstellung von 3D-Modellen bereit. Die Software bietet eine direkte Anbindung von Druck-Services über das Internet, die aber nicht zwingend genutzt werden müssen. Alle Konstruktionsdaten stehen in Standard-Dateiformaten zur Verfügung und sind schnell an lokale Dienstleister übergeben.
Konstruktion der digitalen Version des zu ersetzenden Bauteils
Um die digitale Konstruktion des Ersatzteils im CAD Programm zu vereinfachen, ist es empfehlenswert, zunächst eine Skizze anzufertigen. Damit ist das 3D-Modell anschließend schnell am Computer erstellt. Eine kurze Youtube-Einführung zur Software und 30 Minuten Zeichenarbeit führten zum druckfähigen 3D-Modell des Ersatzteils. Die Ausgabe der digitalen Daten erfolgte als 3D-druckfähige STL-Datei.
Fertigung des Ersatzteils im 3D Druck
Die STL-Datei kann direkt durch Druck-Anbieter verarbeitet werden. In meinem Fall hatte ich die Möglichkeit, das Ersatzteil mit freundlicher Unterstützung von Prof. Dr. Rühmann, zuständig für das Fach Produktentwicklung an der FH Köln, sowie Frau Pelger-Arz, Laboringenieurin für Qualitätsmanagement im Labor des Campus Gummersbach, zu erstellen. Die Fertigung durch einen Internet-Dienstleister hätte mit rund 7,00 Euro jedoch ebenfalls keinen hohen finanziellen Aufwand erzeugt. Im letzteren Fall erhält man die produzierten Bauteile bequem per Post.
Abschließend musste das gedruckte Ersatzteil nur noch eingebaut werden. Mit wenigen Handgriffen erwachte der 3MIX 8000 zu seinem zweiten Leben.
Unternehmen verzichten auf hohe Renditen und verärgern Kunden
Neben dem Ziel, meinen Mixer vor dem Elektroschrott zu bewahren, wollte ich herausfinden, wie groß die finanziellen Auswirkungen der individuellen Industrie 4.0 auf die Hersteller - im vorliegenden Fall von Haushaltsgeräten - sind.
Dass sich OEM an dieser Stelle ein gutes Geschäft entgehen lassen, zeigt die folgende Berechnung: Der Zentralverband Elektrotechnik und Elektronikindustrie e.V. ermittelte für das Jahr 2010 einen Bestand an elektrischen Handrührern in Deutschland von ca. 37 Millionen Geräten. Die Beratungs- und Service-Gesellschaft Umwelt mbH berechnete im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Lebensdauer dieser Geräteklasse mit ca. 12,7 Jahren, woraus ein Ersatzbedarf von 2,91 Millionen Stück pro Jahr abgeleitet werden kann.
Fehlt noch der Marktanteil der SEB Gruppe bei Haushaltskleingeräten. Nach einer Untersuchung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2003 wird dieser auf ca. 30 Prozent geschätzt. Daraus entsteht ein Ersatzbedarf bei Handrührern des Herstellers SEB von über 800.000 Stück pro Jahr. Unterstellen wir, dass nur 20% durch die Bereitstellung mechanischer Ersatzteile funktionsfähig blieben, dann landen mehr als 160.000 Geräte weniger im Elektroschrott. Eine freundliche Umweltbilanz und definitiv ein "grünes" Argument. Besonders wenn wir uns vor Augen führen, dass diese Zahlen nur Deutschland repräsentieren. Aber die Nutzung der digitalen Einzelfertigung wäre auch für die Hersteller ein gutes Geschäft, das ihnen durch die individuelle Industrie 4.0 zu entgleiten droht.
Alleine die unterstellten 160.000 mechanischen Ersatzteile für Handrührer würden bei einem durchaus üblichen Ersatzteilzuschlag von 200 Prozent zu einem Umsatz von über 3,2 Millionen Euro führen, wobei zusätzlich angenommen werden kann, dass Ersatzteile deutlich bessere Margen erzielen als Neugeräte. Plus grünes Gewissen und ein guter Ruf für Servicefreundlichkeit. Und der Aufwand zur Umsetzung dieser Serviceleistung wäre minimal. Die Hersteller verfügen über alle erforderlichen digitalen Daten zum 3D-Druck. Der Prozess von der Ersatzteilidentifikation, über den Druck und den Versand lässt sich vollständig digitalisieren und automatisieren. Die mittlerweile verfügbare Vielfalt an Werkstoffen und Verfahren für diese Art der Einzelfertigung lässt die Herstellung einer großen Bandbreite an Ersatzteilen zu.
Wie lange wird es dauern, bis auch in großen Unternehmen derartige Technologien nutzbringende Anwendungen finden? Warum dauert es so lange? Jahrelang wurde die Produktion "auf Vordermann" gebracht, verschlankt und standardisiert. Wann beginnen wir mit der Industrie 4.0 wirklich kreativ über Innovationen nachzudenken und diese umzusetzen? Scheinbar verschlafen wir eine Chance. Es geht nicht alleine um einheitliche Standards im Zugriff auf Informationen. Es geht um ein grundsätzlich anderes Denken. Wenn unsere Industrie nicht aufpasst, verliert sie durch zunehmend digitalisierte und individuelle Fertigungsmöglichkeiten die Kontrolle über ihre Wertschöpfungsketten - schneller als ein Standard definiert ist.
- Was Anlagenbauer und -betreiber unterscheidet
Die Betreiber von Industrie-4.0-Anlagen (Produktion) legen Wert auf Effizienz und Kosten. Die Hersteller der Maschinen, Geräte und Anlagen (Engineering) wollen vornehmlich die entstehende Komplexität im Griff behalten. - Industrie 4.0 - ein unbekanntes Konzept
Die meisten Fach- und Führungskräfte aus dem verarbeitenden Gewerbe kennen laut IDC-Erhebung nicht einmal den Begriff "Industrie 4.0". Die Analysten sind sich indes sicher, dass das Gros der leitenden Angestellten, die sich mit Fragen der Unternehmensstrategie beschäftigen, sich sehr wohl mit dem Konzept auseinandersetzt. - Wie bedeutend ist Industrie 4.0?
Diejenige, die sich bereits eine Meinung zum Thema gebildet haben, erwarten, dass Industrie 4.0 entweder Teilbereiche oder komplette Wertschöpfungsketten in der Fertigung verändern wird. - Stand der Installationen
Viele Installationen in den Fertigungsstraßen sind bereits mit dem Internet verknüpft. Eine Öffnung der Produktionssysteme hat laut IDC bereits begonnen. Aus der Erhebung geht jedoch nicht hervor, was genau vernetzt wird. - Sorge um Datenschutz und Sicherheit
Die Vernetzung macht die Industrieanlagen anfälliger für Diebstahl geistigen Eigentums und für Eingriffe in die Abläufe. Das gilt naturgemäß insbesondere für mit der Außenwelt vernetzte Anlagen. - Die Industrie 4.0 kommt bald
Die meisten rechnen binnen zwei bis zehn Jahren mit der vollumfänglichen Einführung von vernetzten und intelligenten Fertigungssystemen. Das ist, so meinen die Marktforscher von IDC, sehr optimistisch. - Was die Industrie 4.0 bremst
Der Optimismus der Anwender ist auch deshalb erstaunlich, weil sie zugleich viele ungelöste Fragen haben, die unter anderem die Sicherheit und die Finanzierung betreffen. - Geld für Industrie 4.0
Den meisten Befragten stehen Gelder für Investitionen zur Verfügung. Über die Höhe des Budgets macht die Erhebung keine Angaben. - Wo Anwender einkaufen
Die Betreiber von Anlagen beziehen Produkte und Dienste für intelligente Fertigungsinstallationen vor allem von Anlagen- und IT-Hersteller. Die Maschinenbauer wenden sich vor allem an Sensorikanbieter.
Denn wenn die Hersteller nicht aktiv werden, machen es wir Endnutzer (ich spreche mit Absicht nicht mehr vom Verbraucher). Dann produzieren wir selbst. Alle erforderlichen Produktionsmittel sind vorhanden:
Kostenfreie CAD Software zum Entwurf
3D-Druckdienstleister die digitale Entwürfe über das Internet prüfen, erstellen und versenden
Eine zunehmende Zahl von Internetdatenbanken, die es ermöglichen, die digitalen Konstruktionsbibliotheken der Hersteller zu ersetzen
Bei mechanischen Ersatzteilen erlauben es Digitalisierung, kostenfreie Software und internetbasierte Dienstleister schon heute auf den Hersteller zu verzichten. Als nächstes wird die Elektronik folgen. "Unsere Industrie ist offenbar hervorragend in der Lage, systematisch bekannte Prozesse und Verfahren zu optimieren. Bei der kreativen Nutzung neuer und unkonventioneller Wege tun wir uns schwer", fasst Prof. Dr. Rühmann den Zustand zusammen. Die Unternehmen sind dabei einen wesentlichen Aspekt der individuellen Industrie 4.0, die Verbindung von Bits und Atomen durch jeden Nutzer, zu verschlafen.
Ein Fehler, der bereits andere Industrien viel Geld gekostet hat. Die Musikindustrie hat zum Ende der neunziger Jahre gedacht sie wäre unverwundbar. War sie nicht. Heute steht die Zeitungsindustrie vor einem gravierenden Wandel. Und als nächstes sind die Hersteller von Konsumgütern an der Reihe. Wenn ich Hersteller wäre, würde mir das am meisten Angst machen. Was machen sie denn, wenn irgendwann die offenen digitalen Bibliotheken im Netz alle erforderlichen Bauteile zur Herstellung von Küchengeräten - oder weiterer prinzipiell übertragbarer Produkte - enthalten? Dann lasse ich mir meinen neuen Mixer vielleicht einfach drucken. Aber zunächst bin ich froh dass mein "alter" wieder geht.
Und alle, die einen 3MIX 8000 mit kaputtem Einschalter im Schrank liegen haben finden hier (http://www.magaseen.de/zu-frueh-kaputt.html) die Datei zum Drucken des Ersatzteils im Format von 123D. Von Krups bekommen sie es nämlich nicht. (bw)