Gerne und viel zu oft wird das jeweils kommende Jahr zum "Jahr des Linux-Desktops" ausgerufen. Das lassen wir besser bleiben, nachdem diese Prognose regelmäßig widerlegt wurde. Aber es gibt eine ganze Reihe an Trends und Fakten, die für ein besonders interessantes und erfolgreiches Linux-Jahr 2022 sprechen. Beim Blick auf das nächste Jahr soll es aber nicht nur um Linux selbst gehen, sondern um generelle IT-Entwicklungen mit Einfluss auf Marktstellung und Nutzeralltag des freien Betriebssystems.
Der Linux-Kernel 2022
Die nächste Kernel-Version 5.16 wird bereits im Januar 2022 folgen, im Herbst 2022 geht dann die Zählung voraussichtlich zur 6.0. Neben der Treiberoptimierung unter anderem für Thunderbolt 4/USB 4 ist die Erneuerung des veralteten Codes für die Zstandard-Komprimierung (Zstd) in Arbeit: Zstd verwenden Dateisysteme wie BTRFS, aber auch diverse Distributionen zur Kompression von Paketformaten (Fedora, Arch, Mandriva). Beim neuen Code geht es vor allem um höhere Geschwindigkeit.
Mit Futex2 ist eine große Neuerung geplant, die nach langer Entwicklungszeit eine geänderte Thread-Synchronisation ermöglicht. Dabei geht es in erster Linie um höhere Spieleleistung, die von Valve (Spieleplattform Steam, s. a. "Steam Deck") angemahnt und initiiert wurde. Bei Echtzeitspielen kann situativ pro Sekunde eine fünfstellige Menge an Threads anfallen. Futex2 ist frühestens für Kernel 5.16 zu erwarten, wahrscheinlich später.
Android & Linux: Wiedervereinigung
Android basiert auf dem Linux-Kernel (LTS) und wird als "Android Common Kernel" an die Hersteller ausgeliefert. Früher machte Google den Herstellern von Mobilgeräten keine Vorgaben für den Umgang mit der Kernel-Basis. In der Folge entstanden sehr viele Kernel-Varianten, die sich großzügig (um bis zu 50 Prozent) vom Hauptzweig des Linux-Kernels entfernten und je gesondert gepflegt werden müssen.
Diesen fragmentierten Wildwuchs will Google 2022 bis 2024 wieder vereinheitlichen. Sämtliche Kernel-Funktionen für Android sollen künftig im Hauptzweig entwickelt werden und nicht mehr extern. Die eigenen Funktionen der Gerätehersteller werden dann separat entwickelt und über eine Schnittstelle in den Kernel eingebunden. Davon profitieren auch die Hersteller, weil Kernel-Updates künftig schneller und ohne eigene Entwicklungsarbeit erfolgen können. Android-Geräte der näheren Zukunft werden somit wieder Linux-verwandter.
Nebenbei: Google bietet bewährte Android-Eigenschaften für den Linux-Hauptzweig an. Dieser Austausch zwischen "Android Common" und Linux läuft schon einige Jahre in gegenseitigem Einvernehmen.
Ubuntu 22.04 LTS und seine Derivate
Verlässlich und erwartbar wie Ebbe und Flut wird am 21. April 2022, wie in allen geradzahligen Jahren, das nächste Ubuntu (22.04 LTS) mit Langzeitsupport erscheinen. LTS-Versionen mit jeweils fünf Jahren Support sind Meilensteine für die Nutzer ebenso wie für die zahlreichen Ubuntu-Derivate. Die allermeisten Derivate wie Linux Mint, Peppermint-OS, Elementary OS oder Zorin-OS konzentrieren sich auf die LTS-Versionen und erneuern ihre Systembasis im Turnus der Ubuntu-LTS-Versionen. Auch hier stehen dann - mit einigen Monaten Abstand - neue Versionen an.
Auffälligste Neuerung im kommenden Ubuntu ist ein neues Installationsprogramm, das den bisherigen Ubiquity-Installer ablösen soll. Als technische Basis dient der textbasierte Installer Subiquity von Ubuntu Server, jedoch mit schicker grafischer Oberfläche, die mit Googles UI-Werkzeug Flutter entwickelt wurde. Dabei geht es nicht zuletzt darum, die Optik des uralten Ubiquity (der allerdings seit 15 Jahren technische Maßstäbe setzt) zu polieren.
Neben der bekannten Wahl zwischen "Ausprobieren" und "Installieren" wird der künftige Installer eine Systemreparatur für ein installiertes, aber defektes Ubuntu-System anbieten. Für Parallelinstallationen neben Windows gibt es eine neue Funktion, um Intels Rapid Storage Technology auszuschalten. Außerdem wird der Installer eine Option enthalten, bereits beim Setup das grundlegende Desktopthema zu wählen. Entgegen früherer Ankündigungen ist der neue Installer in der Zwischenversion Ubuntu 21.10 noch nicht anzutreffen.
Ob alle Ubuntu-Derivate diesen Schritt mitmachen werden, ist noch offen. Die Ubuntu-Varianten Kubuntu und Lubuntu bevorzugen seit etlichen Versionen den alternativen Calamares-Installer. Linux Mint wiederum hat den traditionellen Ubiquity stets eigenständig angepasst - eine Investition, die man für den neuen Installer wiederholen müsste.
Webbrowser 2022: Firefox - quo vadis?
Der langsame, aber stetige Niedergang des Mozilla-Browsers bei ebenso konstantem Wachstum von Google Chrome lässt auch für 2022 nur eine Richtung erwarten: Der sympathische Open-Source-Browser Firefox wird weiter Anteile verlieren. In Deutschland gibt es zwar noch weit mehr treue Firefox-Nutzer als im weltweiten Durchschnitt, aber wenn Firefox den Trend der letzten Monate und Jahre fortsetzt, könnte der Browser bis Mitte 2022 weltweit unter fünf Prozent fallen, in Deutschland unter zehn Prozent.
Firefox hat inzwischen nicht nur Chrome/ Chromium gegen sich, sondern auch den Chromium-basierten Microsoft Edge. Dessen Aufstieg seit 2020 dürfte allerdings weniger auf bewusste Nutzerentscheidungen gründen, sondern vielmehr auf der Tatsache, dass Edge auf Windows inzwischen standardmäßig installiert wird.
Gründe für die Massenflucht zu Chrome & Co. gibt es mehrere: Chrome ist einfach ein Stück schneller, aber das ist gar nicht das allein Entscheidende. Bedienung, Optionen, Lesezeichen - bei Firefox ist alles ein Stück umständlicher, unter Android mehr noch als am PC-Desktop. Dies zu vereinfachen, sollte mehr Nutzer zurückgewinnen als die jüngeren Mozilla-Versuche, die Anwender durch zusätzliche Funktionen zu locken (Pocket, VPN).
Noch mehr Snap- und Flatpak-Software
Der Trend zu distributionsunabhängigen Softwarecontainern, soeben wieder bestätigt durch das Firefox-Snap in Ubuntu 21.10, ist nicht umkehrbar. Was für Entwickler und Distributions-Maintainer eine große Vereinfachung bedeutet, ist für den Linux-Nutzer eher ein Ärgernis. Die Containersoftware ist zwar aktuell, bringt aber oft ein halbes Betriebssystem an Abhängigkeiten mit. Insbesondere bei kleinen Tools entsteht oft ein krasses Missverhältnis zwischen eigentlicher Software und mitgeschleppten Systembibliotheken.
Spielekonsole "Steam Deck" mit Arch Linux
Die für Gaming optimierten Steam Machines mit dem Debian-, später Arch-basierten Steam-OS waren ein Flop. Dennoch wurde Steam-OS weiterentwickelt und erhält nun eine neue Hardwareplattform: Das Steam Deck ist eine Handheld-Spielekonsole der Valve Corporation und bietet laut Hersteller "die höchste Spielleistung, die Sie je in den Händen gehalten haben". Der Verkaufsstart beginnt ab Dezember 2021 mit Preisen ab 419 Euro. Vorbestellungen seit Mitte 2021 belegen reges Kundeninteresse. Dennoch wird erst das Jahr 2022 zeigen, ob das Steam Deck mit Playstation und Xbox konkurrieren kann. Die nackte Fakten sprechen dafür: mehr Spiele, mehr Arbeitsspeicher, schnellere CPU.
Die Desktops Gnome und KDE
Der Gnome-Blog hat erste Informationen über Version 42 der Desktopumgebung Gnome veröffentlicht. Nach der dort gezeigten Roadmap wird die finale Version im März 2022 erscheinen. Eines des Hauptmerkmale wird die Wahl zwischen einem systemweiten hellen und dunklen Desktopthema, auf Wunsch auch mit automatischer Synchronisation der passenden Hintergrundbilder. Was Gnome-Benutzern als triviale Optikänderung erscheinen mag, ist auf Entwicklerseite eine komplexe Aufgabe, da es gilt, alle Klick-Controls in Menüs, Fenstern und Titelleisten für beide Darstellungsweisen gut sichtbar und kontrastiv zu gestalten. Außerdem müssen Themen optisch harmonieren und sowohl für GTK3- als auch GTK4-Programme funktionieren. Der Hell-Dunkel-Themenwechsel ist für Gnome 42 angekündigt, aber noch nicht letzte Gewissheit.
Für KDE Plasma 5.24 ist noch kein Erscheinungsdatum bekannt, andererseits gibt es bereits detaillierte Kenntnis über die anstehenden Neuerungen. Die werden sich aber auf Bugfixing und Feintuning beschränken. Unter anderem wird weiter an der Optik (Breeze-Thema) gearbeitet, um die Farbkontraste zu optimieren. Dateimanager, Konsole und Scanlite werden signifikante Verbesserungen erhalten, und nicht zuletzt wird ein gravierender Fehler bei der Installation von Snap-Paketen ausgemerzt.
Homeoffice wird bleiben
Die Pandemie hat den Nachweis erzwungen, dass Arbeiten im Homeoffice produktiv sein kann. Die Notwendigkeit zum Homeoffice wird mit dem weiteren Abklingen der Pandemie entfallen, aber Homeoffice wird überall dort ganz oder teilweise erhalten bleiben, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer diese Arbeitsweise als Win-Win-Konstellation erlebt haben. Aus der Politik kommen mittlerweile sogar Vorschläge für einen gesetzlichen Anspruch auf Homeoffice zumindest für einen Teil der im Arbeitsvertrag vereinbarten Arbeitszeit.
Was bedeutet das für Linux? Am Arbeitsdesktop wahrscheinlich nichts Entscheidendes, da in Unternehmen meistens Microsoft- und Adobe-Software vorausgesetzt wird, die nur unter Windows läuft. Jedoch werden sich viele neue Homeoffice-User mit ihrer sonstigen Infrastruktur nicht dauerhaft zufriedengeben. Die Homeoffice-Pflicht hat viele Defizite offenbart, die schnell oder mittelfristig abgebaut werden - insbesondere höhere Bandbreiten ins Internet und innerhalb des Heimnetzes. Wo darüber hinaus zentrale Heimnetzserver die Infrastruktur ergänzen sollen, kommen vorrangig Linux-basierte NAS-Geräte und frei konfigurierbare Platinenrechner mit Linux ins Spiel.
Raspberry Pi 5: Ab zum Desktop?
Der Raspberry Pi 4 und der in eine Tastatur integrierte Raspberry Pi 400 waren eindeutige Gewinner in der Corona-Pandemie. Dass es einen Raspberry 5 geben wird, steht daher außer Frage. Handfeste Fakten über Erscheinungstermin oder Spezifikationen des Raspberry Pi 5 sind allerdings Fehlanzeige. Tatsache ist aber, dass die letzte Hauptversion Mitte 2019 auf den Markt kam und somit Version 5 im nächsten Jahr gewissermaßen überfällig wird (wenngleich es keine Terminregeln für die Veröffentlichung neuer Pi-Boards gibt).
Die Tendenz dürfte der 2021 erschienene Raspberry Pi 400 vorgeben, der von vornherein als Desktop ausgelegt war. Eben Upton, Gründer der Raspberry Pi Foundation, hat sich klar geäußert, dass er "seinen" Minirechner inzwischen nicht mehr nur als Bastelplatine und Miniserver versteht, sondern als leistungsstärkere Alternative zu preiswerten Chromebooks oder Barebones. In diese Richtung als Zweitdesktop, Surfstation und Einstiegsgerät für den Nachwuchs wird die Reise folglich gehen.
Hardware 2022: Knapp und teuer
Wer 2021 in der Not war, ein neues Smartphone kaufen zu müssen, stand oft vor leeren Regalen im Einzelhandel und erhielt beim Onlinekauf keinen verlässlichen Liefertermin. Die Engpässe bei der Halbleiterproduktion und die stockende Versorgungslogistik in der Folge der Corona-Krise werden noch das ganze Jahr 2022 andauern. Die Konsequenzen sind steigende Preise und deutlich längere Lieferfristen.
Wer mit Investitionen in die IT-Infrastruktur ohne Not warten kann, ist daher gut beraten, diese Engpässe auszusitzen. Inwieweit diese Situation Linux-Distributionen Auftrieb gibt, bleibt abzuwarten: Linux-Desktops generell, vor allem aber anspruchslose Linux-Distributionen können das Upgrade auf neue Hardware mittel- und langfristig verschieben - jedenfalls mühelos bis zum Ende der aktuellen Halbleiterkrise.
Windows 11 und die Hardware
Das soeben erschienene Windows 11 wird wie jede neue Windows-Version eine Fluchtbewegung Richtung Linux auslösen. Dabei ist das Jahr 2022 jedoch nur der Startschuss: Das volle Ausmaß wird sich erst bis 2025 zeigen, wenn der Support für Windows 10 ausläuft und viele Notebooks und PCs die relativ hohen Hardwareanforderungen von Windows 11 nicht erfüllen können. Ein Upgrade auf Version 11 scheidet dann folglich aus und der logische Weg führt zu Linux-Distributionen, sofern der Endbenutzer seine Hardware weiter hinnutzen will.
China: Kein Windows in Behörden
Auch in der Volksrepublik China ist Windows das dominierende Betriebssystem - allerdings bald nur noch auf privat genutzten Rechnern. Im nächsten Jahr 2022 will die chinesische Regierung einen Prozess abschließen, der angeblich seit 2020 im Gange ist und nie öffentlich oder gar offensiv angekündigt wurde: Alle in Behörden und öffentlichen Einrichtungen laufenden Rechner müssen dann in China produzierte Hardware mit einem chinesischen Betriebssystem verwenden. Die ambitionierte Migration soll etwa 30 Millionen Geräte betreffen. Hardwareseitig werden wohl Lenovo und Huawei die maßgeblichen Nutznießer.
Softwareseitig wird das in China entwickelte Neokylin bisheriges Windows ersetzen (und Ubuntu Kylin von Canonical das Nachsehen lassen). Das Fedora-basierte Neokylin besitzt bereits Versionsziffer 7.0 und wird bei Hardwareherstellern für den chinesischen Markt immer häufiger als unterstütztes Betriebssystem aufgelistet.
Serverdienste, IoT, Cloud: Ein Minenfeld
Das exponentielle Wachstum von Homeoffice, Heimautomatisierung und Internet of Things (IoT) birgt wachsende Sicherheitsrisiken. Laut Spezialsuchmaschine www.shodan.io sind in Deutschland Ende 2021 mehr als fünf Millionen Webserver mit Apache und Nginx über das Internet zugänglich, mehr als zwei Millionen SSH-Server bieten öffentliche Fernwartung an.
In den allermeisten Fällen dürfte dahinter ein Embedded Linux oder eine Linux-Distribution stehen - sei es als native Installation oder als virtuelles System bei einem Cloudanbieter. Gewiss wird ein großer Teil dieser Serverdienste von professionellen Admins verwaltet, welche die Sicherheitsanforderungen eines öffentlich zugänglichen Servers im Blick haben. Dass dies bei der großen Masse der Dienste nicht überall der Fall sein kann, liegt aber auf der Hand.
Es wird zu einer der dringlichsten Aufklärungspflichten der nächsten Jahre, den gravierenden Unterschied eines lokalen Serverdienstes im LAN und eines öffentlich erreichbaren im WAN zu vermitteln. Auch hinter jeder simplen, monokausalen Funktion der Heimautomatisierung wie Licht, Rollladen, Heizungssteuerung steht ein (Linux-)Serverdienst, der weltweit jeden empfängt, der die Zugangsdaten kennt oder errät. (PC-Welt)