Sinnbild des Wirtschaftswunders, Träger des technologischen Fortschritts, Statussymbol: Kein Industrieprodukt verkörpert den Erfolg der deutschen Wirtschaft und das Prädikat "Made in Germany" wie das Auto. Die heimischen Marken Audi, BMW, Mercedes und Porsche dominieren bei den Premium-Wagen den Weltmarkt mit 80 Prozent Anteil. Der VW-Konzern wetteifert mit Toyota um den Titel größter Autobauer der Erde. Und trotz solcher Tiefen wie der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009, in der die Industrie durch die Abwrackprämie gestützt werden musste, strotzten deutsche Autobauer bisher vor Selbstbewusstsein. Bisher.
Die Autobranche am Scheideweg
Zwei in diesen Tagen erscheinende Bücher thematisieren die Zäsur. Der Wirtschaftsjournalist Mark C. Schneider, Experte für die Autoindustrie und insbesondere den VW-Konzern, hat "Volkswagen - Eine deutsche Geschichte" vorgelegt. Und der hierzulande vermutlich meistzitierte Branchen-Professor Ferdinand Dudenhöffer von der Uni Duisburg-Essen veröffentlicht "Wer kriegt die Kurve? - Zeitenwende in der Autoindustrie". Beide Werke werfen - just zum ersten Jahrestag des VW-Abgas-Skandals - ein Schlaglicht auf eine Branche am Scheideweg.
Denn inzwischen macht Ungewissheit die Runde. Die Affäre um weltweit elf Millionen manipulierte Diesel-Wagen bei Volkswagen wächst sich zu einem der größten deutschen Wirtschaftsskandale aus. Er trifft das Herz eines Produktes, das so wie bisher nicht fortbestehen kann: Die traditionellen Verbrennungsmotoren brauchen die endliche Ressource Öl und blasen trotz aller Gegenbemühungen noch so viel Dreck in die Umwelt, dass viele Innenstädte schon heute Probleme haben. Die Zukunft gehört zweifellos den alternativen Antrieben, allem voran dem Elektromotor und der Brennstoffzelle.
Zu allem "Überfluss" dringt die IT mit aller Macht ins Fahrzeug - Autos werden zu Computern auf Rädern. Firmen wie Google und Apple bringen sich mit milliardenschweren Kriegskassen in Stellung: Sie sehen das Automobil als perfektes Vehikel für Geschäfte mit dem Datenstrom - dem Gold, beziehungsweise Öl, der Zukunft. Viele junge Menschen sehen das eigene Auto mittlerweile als verzichtbar an. Carsharing heißt das Zauberwort - gerade in Metropolen wie Berlin funktioniert das gut, wenn man nicht ohnehin mit Bus und Bahn staufrei ans Ziel gelangt.
Bytes statt Blech?
Vernetzung und Digitalisierung könnten am Ende das Steuer gar völlig überflüssig machen. Womöglich entfällt irgendwann der Führerschein, wenn Roboterautos serienreif sind. Google tüftelt schon längst daran. Dudenhöffer schreibt: "Zukünftig ist es nicht mehr die Beschleunigung von Null auf Hundert oder die PS-Zahl, die technische Leistungsdaten in Emotion übersetzen, sondern die Eleganz und Präzision, mit der ein Fahrzeug vollautomatisch aus der Garage vorfährt, die temperamentvolle Fahrt auf kurvigen Strecken, bei denen das Auto quasi 'um die Ecke schaut' und so Dynamik mit Sicherheit kombiniert."
Bytes statt Blech also. Das hinterlasse schon heute seine Spuren innerhalb der Branche, hält Dudenhöffer fest. "Für ein neues iPhone warten Menschen rund um die Welt eine ganze Nacht im Freien, nur um zu den Ersten zu gehören, die das aktuelle Modell in den Händen halten. Das schafft kein Autobauer. Audi, BMW und Mercedes haben sich bereits die Apple-Stores zum Vorbild für zukünftige Vertriebskonzepte genommen."
Zum Ende seines Buches zeichnet Dudenhöffer Szenarien - darunter auch ein für deutsche Autobauer besonders düsteres. Darin ist der Professor mit "Hans", einem Roboterauto, unterwegs. Er passiert zerfallene Autohäuser, davor meterhohes Gras. Die Chinesen haben den einst stolzen deutschen Autoherstellern mit günstigen, aber guten E-Autos zugesetzt. Der Vertrieb - einst gemünzt vor allem auf Neuwagenverkauf - ist geschlagen vom Online-Vertriebsprinzip und dem "Sharing", bei dem US-Riesen wie Amazon oder das chinesische Pendant Alibaba den Ton angeben. Reste der deutschen Autoindustrie liegen fern in der Achse der "Fast Four": die chinesischen Metropolen Peking, Shanghai und Chongqing sowie das Silicon Valley, Brutstätte der US-Tech-Firmen.
Die OEMs und die alte Welt
Was Dudenhöffer im Großen mit Blick auf die Branche schafft, gelingt dem Journalisten Schneider anhand des Mikrokosmos VW-Konzern. Er beschreibt etwa, wie sich der Chef der VW-Schwester Audi, Rupert Stadler, von den neuen digitalen Konkurrenten fragen lassen musste: "Da sitzt euer Kunde stundenlang - gefesselt mit dem Gurt - in eurem Auto, und ihr macht keinen Umsatz mit ihm?" Audi will nun aufholen.
Schneider macht den Schwebezustand der Branche am Fallbeispiel VW greifbar. Die Wolfsburger steckten noch zu sehr in ihrer alten Welt, selbst das Diesel-Beben mache die Veränderungseinsicht nicht zum Selbstläufer. So sieht Schneider den neuen VW-Digital-Guru Johann Jungwirth, der von Apple kommt, bisher auf eher verlorenem Posten: "Mit seinen Visionen einer schönen neuen Mobilitätswelt, in der alle Menschen unfallfrei autonom unterwegs sind und so auch Behinderte beweglicher werden, überfordert er die Beweglichkeit des Unternehmens, dessen Kernmannschaft eben noch in Spaltmaßen dachte."
Schneider hat sich auch tief in die VW-Archive gewühlt, um Parallelen aufzudecken und aufzuzeigen, woher der Konzern kommt. Er macht so den Fakt sichtbar, dass Volkswagen stets Spiegel deutscher (Wirtschafts-) Geschichte ist. Und das lässt ihn skeptisch zurück bei der Frage, wie rasch VW neue Weichen stellen kann. "Volkswagen ist vom Mythos des männlichen Autokraten geprägt, wie ihn Nordhoff [VW-Chef nach dem Weltkrieg] begründet hat. In Wolfsburg wird bisher das Heldentum des Einzelnen gefeiert, nicht das Kollektiv des Schwarmes gefördert."
Angesichts der lange frauenlosen VW-Führung lässt das Fazit denn auch aufhorchen: "Es gilt, (..) auf allen Führungsebenen die Bastionen der Männer zu durchbrechen. Dieselgate mit verantwortlichen Managerinnen und Ingenieurinnen? Unwahrscheinlich." (dpa/fm)