Data Science in der GKV

Der Kunde als Entwicklungspartner

17.08.2021
Von Andreas Strausfeld
Data Science soll Prozesse und Strukturen verbessern. Ein Beispiel aus dem Gesundheitsmarkt zeigt, wie diese Change-Prozesse implementiert werden können.
Im Science/Innovation Hub von Bitmarck arbeiten IT, Fachbereiche und Kunden gemeinsam an neuen digitalen Lösungen.
Im Science/Innovation Hub von Bitmarck arbeiten IT, Fachbereiche und Kunden gemeinsam an neuen digitalen Lösungen.
Foto: Bitmarck

Die Menge an Daten, die jeder von uns täglich produziert und die über uns erhoben werden, steigt fortlaufend. Gerade im Gesundheitswesen bietet dies enorme Chancen, denn es ermöglicht individuellere Versorgungspläne und effizientere Strukturen. Auch für die Gesundheitspolitik ist das Thema inzwischen allgegenwärtig - nicht zuletzt, weil das Bundesgesundheitsministerium unter Jens Spahn das Thema ganz oben auf ihre Agenda gehoben hat: So sollen Versicherte beispielsweise ab 2023 die Möglichkeit haben, die Daten ihrer elektronischen Patientenakte freiwillig mit dem Forschungsdatenzentrum zu teilen. Außerdem soll ein europäischer Datenraum entstehen, um den Zugang zu einer großen menge an Datenpunkten innerhalb der Europäischen Union zu vereinfachen und so die Grundlage für moderne Forschung und Versorgungsprozesse zu schaffen.

Eine wichtige Rolle, um diese Chancen zu nutzen, nehmen die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) ein. Sie stellen nicht nur für knapp 73 Millionen Menschen in Deutschland die Finanzierung sicher, sie unterstützen auch dabei, die Versorgungsprozesse auszugestalten.

Data Science im Umfeld der GKVen

Es hat mehrere Gründe, dass das System der GKV sich eignet, Data-Science-Kompetenzen eigenständig zu schaffen und nicht nur extern einzukaufen. Zum einen sind gesetzliche Krankenkassen Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie unterliegen also einer sehr strengen gesetzlichen Aufsicht, was gerade bei der Verarbeitung hochsensibler Gesundheitsdaten zur notwendigen Transparenz beitragen kann. Zum anderen ist das System der GKV so komplex, dass es für Externe in der Regel sehr schwierig ist, es in dem notwenigen Maße zu durchdringen.

Zudem wird der Wettkampf zwischen den verschiedenen Krankenkassen immer dynamischer. Wer hier bestehen will, muss effizientere und kundenorientiertere Strukturen aufbauen und dafür etablierte Prozesse hinterfragen. Auch auf Seite der Krankenkassen besteht also ein Handlungsdruck, der Innovationen vorantreibt. Sie müssen das Thema selbst in die Hand nehmen.

Außerdem ist zu beachten: Aufgrund der Vielzahl der derzeitigen Reformen seitens des Gesetzgebers bekommen Krankenkassen die Chance, künftig eine deutlich aktivere Rolle in der Versorgungssteuerung einzunehmen. Dies ist eine große Chance, für die es jedoch Verfahren braucht, die über die klassischen Kassenwerkzeuge hinausgehen.

Als Bitmarck sich vor rund zwei Jahren die Frage gestellt hat, wie das Thema Data Science bei dem Managed Service Provider und seinen Kunden verankert werden könne, war schnell klar, dass es hierfür ein neues Format braucht. Zu Beginn des Prozesses war nicht klar, in welche Richtung sich dieser entwickeln wird und welche konkreten Probleme es zu lösen gilt. Diese Flexibilität ist in einer klassischen Unternehmensstruktur, die vorrangig auf planbare Prozesse abzielt, schwer umsetzbar.

Science/Innovation Hub als Lösung

Um das Thema zu adressieren, hat Bitmarck einen Science/Innovation Hub gegründet - die Data.Science.Factory. Ein zentraler Ansatz ist dabei die aktive Kundeneinbindung: Von der Idee, bis zur Überführung in die Linie, sind die Kunden nicht nur fortlaufend beteiligt, sondern vielmehr auch die Mit-Initiatoren der konkreten Projekte. Sie bestimmen, womit sich die Factory beschäftigen soll und fungieren im Prozess gewissermaßen als Entwicklungspartner.

Konkret bedeutet das beispielsweise, dass die Factory in regelmäßigen Abständen Pitches veranstaltet, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Factory zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der Kunden, den Teilnehmern ihre Ideen für zukünftige Projekte vorstellen. Gemeinsam wird dann entschieden, welche Ansätze weiterverfolgt werden sollen und welche nicht. Sämtliche Prozesse sind dabei transparent. Alle Kunden, die selbst ebenfalls Mitten in der digitalen Transformation stecken, können jederzeit in die konkreten Projekte hineinschauen und sich einbringen. So entsteht ein Lernprozess für alle Beteiligten, der für sich genommen bereits ein wichtiger Mehrwert des Projekts ist.

Ein zweiter Aspekt ist das Bestreben, konkrete Lösungen für konkrete Probleme zu schaffen. Sprich: flexibel einzelne, kleinere Themenbereiche kurzfristig zu bearbeiten. Das klingt zwar naheliegend, bei genauerer Betrachtung ist aber oft das Gegenteil der Fall. Gerade im Innovationsbereich wird häufig zuerst eine Lösung gebaut, um im Anschluss zu schauen, wo diese in die bestehenden Prozesse reinpasst. Dieses Vorgehen hat zweifelsohne auch Vorteile, für den Bereich der GKV ist es aber nicht geeignet, allein schon wegen den sehr spezifischen Anforderungen und der detaillierten Regulatorik.

Damit dies gelingt, setzt die Factory auf agile Strukturen - nicht nur um zu entscheiden, welche Themen bearbeitet werden sollen, sondern auch um sie über mehrere Monate hinweg umzusetzen. Die Teams sind jeweils projektbezogen zusammengestellt und bestehen intern aus wenigen festen Mitarbeitern der Factory, Projektmitarbeitern aus den Fachgebieten sowie den Fachexperten der jeweiligen Krankenkasse.

Die Factory agiert innerhalb der Bitmarck-Gruppe über die Tochtergesellschafts-Grenzen hinweg und ist nicht Teil der klassischen Reporting-Strukturen. Gleichzeitig ist es jedoch entscheidend, dass sie nicht neben dem Konzern agiert, sondern in diesen eingebettet ist. Das zeigt sich auch physisch: Die Factory ist nicht extern untergebracht, sondern in einem Teil der Essener Firmenzentrale. Denn auf der einen Seite ist so für den reibungslosen Wissenstransfer aus der "Factory" in die Bitmarck und die jeweils beteiligten Krankenversicherungen gesorgt. Auf der anderen Seite können gefundene Lösungen durch die Anbindung an die "Mutterstrukturen" besser in die Breite ausgerollt werden.

Mit diesem Ansatz wurden bereits vom Start weg mehrere Projekte angeschoben, die es erlauben, konkrete Use Cases zu testen. Sie beschäftigen sich zum Teil damit, Kassenprozesse zu verbessern, beispielsweise beim Thema "Betrugserkennung bei Heilmittelverordnungen", teilweise aber auch mit Versorgungsprojekten, wie der "Früherkennung und Versorgung bei Depression". Dabei geht es nicht darum, eine große Lösung zu erarbeiten und im Anschluss über Jahre hinweg auszurollen, sondern klar begrenzte Projekte zu starten. Diese werden dann bei Bedarf in die Linie überführt oder frühzeitig beendet, wenn sie scheitern.

Data Science als eigenständiges Strategiefeld begreifen

Daneben ist der strategische Rahmen wichtig. Daten, die die Digitalisierung hervorbringt, analytisch zu verwerten birgt ein großes Nutzenversprechen. Denn während Digitalisierungsstrategien an sich häufiger anzutreffen sind, wird das Thema Data Science nicht immer als eigenständige Strategiefeld begriffen. Das müsste aus der Sicht des Providers aber die zielführende Ausrichtung sein.

Aus diesem Grund erarbeitet und treibt die Factory in einem ebenfalls iterativen Vorgehen eine eigene Data-Science-Strategie innerhalb des Unternehmens voran. Die Projekterfahrungen fließen dabei ebenso ein wie die Sichtweisen der Kunden, die in einem eigenen Veranstaltungsformat namens Data.Science.Dialog diskutiert und reflektiert werden.

Aktuell die technische Operationalisierung der Data-Science-Projekte aus der Factory im Fachbereich neue Anforderungen an die Organisation, die Belegschaft und die technische Infrastruktur. Auch das berücksichtigt das Unternehmen in seinem Strategieprozess mit Blick auf Ansätze wie Machine Learning Operations (ML-Ops) oder den Aufbau einer geeigneten Analytics-Infrastruktur.

In der Factory wird so nicht nur der Umgang mit dem Themenbereich Data Science gelernt oder neue Konzepte zur Bearbeitung innovativer Themenfelder ausprobiert. Sie setzt auch einen strategischen Rahmen für Data Science in der GKV. In Zukunft wird sich der Provider noch stärker als bisher in zwei miteinander verwebte Ansätze teilen: Zum einen sollen klassische Prozesse effizienter und schneller umgesetzt (Explotation), zum anderen neue Ideen identifiziert und ausgearbeitet werden (Exploration). (jd)