In vielen Ländern in Europa können wir ein Paradoxon beobachten: Auf der einen Seite nutzen Unternehmen digitale Technologien, um ihre Prozesse global zu harmonisieren, um weitere Effizienzen zu heben oder um global generell besser zu funktionieren. Auf der anderen Seite wird die Digitalisierung lokal sehr unterschiedlich diskutiert - häufig politisch getrieben. Zur Standortsicherungsvision Industrie 4.0 in Deutschland gesellen sich beispielsweise die "Strategica per la crescita digitale" in Italien, die "Tech Nation" in UK und die "Industrie du Futur" in Frankreich.
Aus digitaler Sicht ähneln sich all diese Programme, denn die Technologie selbst wird selten im Kontext der Deglobalisierung diskutiert. Die Programme in den Ländern haben aber eine starke lokale Bedeutung. Lokale Ideen und Unternehmen werden gefördert und gefordert. Lokale Partnerschaften werden gegründet, um neue digitale Wertschöpfungsketten zu entwickeln. Es wird in lokale Technologien investiert, meistens mit dem Ziel, die lokale Wirtschaft zu stützen.
Meine Diskussionen mit IT-Leitern in Europa über dieses Phänomen zeigen:
Technologie: Die Deglobalisierung spielt als Thema nur im Business eine Rolle. In der IT geht es immer globaler zu. Die Digitalisierung braucht Plattformen und diese sollten so vernetzbar wie möglich sein, weltweit. Das haben auch die Industrie 4.0-Plattforminitiative und das amerikanisch getriebene "Industrial Internet Consortium" (IIC) erkannt und diskutieren nun gemeinsam über Lösungen und Initiativen.
Governance: Hier zeigt die Diskussion um die Deglobalisierung erste Wirkung. Wann, wie, und wie intensiv muss die IT lokale Bedürfnisse unterstützen? Darf zum Beispiel eine Tochtergesellschaft in UK zukünftig noch im gleichen Datacenter gehostet werden? Kann man noch globale Outsourcing-Verträge für die kommenden fünf Jahre abschließen, und wenn ja, muss man eventuell einen Exit nach einem Jahr einkalkulieren?
Sicherheit: Auch hier werden die Diskussionen im Hinblick auf eine Deglobalisierung schwieriger. Cyber Security generell ist ein globales Thema. Aber inwieweit werden zukünftig Sicherheitsthemen und insbesondere Regulatoren zu lokal unterschiedlichen Konzepten führen?
Mitarbeiter: In Zeiten des Fachkräftemangels sind viele Unternehmen auf einen globalen Mitarbeiterpool angewiesen. Aber Visa-Gesetze könnten sich schnell ändern und langfristige Planungen werden generell risikoreicher.
- Wachstum
Der Brexit verlangsamt das Wachstum in der Euro-Zone. Mario Draghi, Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) geht davon aus, dass das Wirtschaftswachstum in der Eurozone in den nächsten drei Jahren zusammen um 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte geringer ausfallen könnte. Das Brexit-Votum könnte die deutsche Wirtschaft im kommenden Jahr einen halben Prozentpunkt Wachstum kosten, ergab eine Konjunkturprognose des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. - Rating
Die Rating-Agenturen haben Großbritannien nach dem Brexit-Votum abgestraft. Standard & Poor‘s senkte die Bonität des Landes um zwei Stufen von Triple A auf „AA“, Fitch ging von „AA+“ auf „AA“. Der Ausblick beider Agenturen ist negativ. - Außenhandel
Deutsche Unternehmen exportierten 2015 Waren im Wert von 89,3 Milliarden nach Großbritannien, das entspricht 7,5 Prozent aller Ausfuhren. Die Einfuhren von der Insel beliefen sich auf ein Volumen von 38,3 Milliarden Euro (vier Prozent aller Importe). Damit ist Großbritannien der fünft wichtigste Handelspartner Deutschlands. - Börse
Am Tag nach der Entscheidung brachen weltweit die Kurse ein. Börsenwerte in Höhe von etwa fünf Billionen Dollar lösten sich in Luft auf, schätzte Christian Kahler von der DZ Bank. - Votum
Am 23. Juni haben 17,4 Millionen Briten für den Austritt aus der EU gestimmt (51,9 Prozent), 16,1 Millionen votierten für einen Verbleib (48,1 Prozent). Die Wahlbeteiligung lag bei 72,1 Prozent.
Die Deglobalisierung wird sicherlich zu Recht divers diskutiert. Doch hat die Vergangenheit gezeigt, dass eine gute Zusammenarbeit wertvoller ist als Mauern aufzubauen. Um für die Deglobalisierungsdiskussionen und die daraus resultierenden eventuellen Veränderungen gut gerüstet zu sein, sind meines Erachtens drei Eigenschaften in der IT besonders wichtig:
Flexibilität: Während mit der Digitalisierung Agilität eine hohe Priorität hat, ist für die Diskussion um die Deglobalisierung Flexibilität wichtig. Flexible IT-Architekturen helfen auf der einen Seite, sich in Plattformen zu integrieren, und auf der anderen Seite, lokale Bedürfnisse abzubilden. Flexible Organisationen erlauben es, mit einem globalen Talent-Shift zurechtzukommen. Flexible Verträge mit Dienstleistern helfen, mit unvorhersehbaren Veränderungen besser umzugehen. Flexibilität wird eventuell sogar wichtiger als Effizienz und Agilität.
Kollaboration: Weltweite Zusammenarbeit in der IT funktioniert in sehr vielen Unternehmen sehr gut, effizient, integrativ und weitreichend. Das wird meines Erachtens auch in Zukunft so sein - egal wie lokal die Themen werden. Weltweites Wissen, globale Innovationskraft und unterschiedliche kulturelle Sichtweisen sind stärker und vielfältiger und somit oft werthaltiger.
Business-Verständnis: Spätestens seit der Digitalisierung ist klar, das IT solides Business-Wissen braucht. Im lokalen Business wird die Deglobalisierung auch diskutiert, weswegen die IT auch lokales Wissen braucht. Es hilft, in Meetings mit den französischen Kollegen zu wissen, was die Kernelemente des französischen "Industrie du Futur"-Programms sind.
Die Deglobalisierung ist ein Thema von wachsendem Interesse. Sie wird eventuell noch viele Überraschungen und Veränderungen mit sich bringen. Sie zu ignorieren wäre ebenso fatal wie voll auf sie zu setzen. Deswegen halte ich es für ratsam, sich bestmöglich auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Mit Flexibilität. Mit Kollaboration. Und mit Business-Verständnis.