Cyber Warfare im Ukraine-Krieg

"Daten sind die neue Munition"

11.10.2022
Von 
Paula Rooney schreibt für unsere US-Schwesterpublikation cio.com.
Wir haben mit dem ersten CIO der US-Armee darüber gesprochen, welche Rolle Cloud, KI und Daten im Ukraine-Krieg – und beim Schutz der Demokratie – spielen.
Kriegsführung verlagert sich zunehmend in den Cyberraum. Auch deshalb setzt der CIO der US Army auf eine "kriegsfähige" Cloud.
Kriegsführung verlagert sich zunehmend in den Cyberraum. Auch deshalb setzt der CIO der US Army auf eine "kriegsfähige" Cloud.
Foto: The Studio - shutterstock.com

Seit November 2020 ist Dr. Raj Iyer der erste CIO der US Army - und befindet sich als Zivilist an vorderster Cyberfront des Russland-Ukraine-Konflikts. Im Rahmen der NATO-Initiative zur Unterstützung der Ukraine nach dem Beginn der russischen Invasion im Februar 2022, arbeitet Iyer mit verschiedenen CIO-Kollegen aus allen Bereichen des US-Militärs sowie den IT-Entscheidern von Pentagon, US-Verteidigungsministerium und -Geheimdiensten zusammen. Gemeinsam unterstützen sie die ukrainischen Befehlshaber vor Ort in (Nahezu-) Echtzeit mit Daten.

"Daten sind inzwischen die neue Munition", konstatiert der Army-CIO, der in seiner Position an die US-Heeresamtschefin Christine Wormuth berichtet. "Letzten Endes besteht die Aufgabe der Army darin, Kriege zu führen und zu gewinnen. Wir sind hier, um unseren nationalen Sicherheitsinteressen zu dienen. Das bedeutet für uns, unsere Cloud kriegsfähig machen zu müssen."

Dabei stehen die US-IT-Chefs unter Druck: Entweder sie schaffen es, genug abschreckende Wirkung aufzubauen, um sogenannte "Future Fights" gänzlich abzuwenden - oder sie gewinnen diese Kämpfe. Dabei seien die technologischen Fähigkeiten der wichtigsten "Gegner auf Augenhöhe" - Russland und China - wesentlich ausgefeilter als die früherer Kontrahenten in Afghanistan und dem Irak, stellt Iyer fest.

Um eine entsprechend fähige, digitale Infrastruktur aufzubauen, musste der CIO, der zuvor unter anderem bei Deloitte tätig war, quasi bei Null anfangen: Bei seinem Amtsantritt verfügte die US Army über keine funktionierende Cloud-Infrastruktur. Folglich griff Iyer im ersten Schritt auf das Budget von 500 Millionen Dollar zurück, das für die digitale Transformation des Militärs vorgesehen war. Dabei setzte er zwei Prioritäten:

"Als wir die Cloud einführen wollten, waren wir gerade erst dabei, eine Strategie zu entwickeln. Zunächst mussten wir sicherstellen, dass wir die kommerzielle Cloud nutzen können. Dann ging es darum, zu entscheiden, wie wir diese Infrastruktur operationalisieren können", erinnert sich Iyer.

Die Cloud im Ukraine-Krieg

Darauf musste der CIO nicht allzu lange warten: Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt und der Cloud-Einführung entschied sich Russlands Präsident Putin, einen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu starten. Als Verbündeter der Ukraine setzt die US-Armee seitdem auch ihre "kriegsfähige" Cloud-Infrastruktur ein, um deren militärische Logistik und Strategie zu unterstützen.

"Es ist das erste Mal in der Geschichte der Army, dass eine Einheit eine laufende Operation per Cloud unterstützt und dazu kommerzielle Satellitenressourcen nutzt", erklärt Iyer nicht ohne Stolz. "Satelliten in einer niedrigen Erdumlaufbahn haben uns den Zugriff auf nachrichtendienstliche Daten in einem Umfang ermöglicht, den wir nicht gewohnt waren - und das in nahezu Echtzeit."

Dr Raj Iyer ist seit Ende 2020 erster Chief Information Officer der US-Armee.
Dr Raj Iyer ist seit Ende 2020 erster Chief Information Officer der US-Armee.
Foto: US Army

Die Menge an Daten, die von Satelliten, Bodenaufklärung und sozialen Medien aggregiert werde, sei überwältigend. Dennoch zeigt sich Iyer zuversichtlich, dass die digitale Infrastruktur nicht nur in diesem Konflikt von entscheidender Bedeutung ist: "Wir sind in der Lage, Informationen, die von unseren nationalen Nachrichtendiensten und den Nachrichtendiensten unserer Partner stammen, schnell zu integrieren, die Datenquellen zu prüfen und zu validieren. So finden wir schnell die richtigen Ziele und können die Informationen entsprechend weiterleiten. So sehr wir uns auch auf unsere Waffensysteme verlassen, der 'Kampf der Zukunft' hängt vor allem davon ab, wie schnell wir die Befehlshaber im Feld in die Lage versetzen, in einem unsicheren Umfeld Entscheidungen zu treffen."

Die Strategie zeigt bereits Wirkung: Einem BBC-Bericht zufolge konnten die ukrainischen Streitkräfte mithilfe der Informationen die Nachschubwege russischer Truppen unterbrechen und auch russische Munitionsdepots angreifen. "Allein in den letzten drei Monaten des Krieges hat sich das Blatt gewendet. Ohne die Cloud wäre das nicht möglich gewesen", konstatiert Iyer. Um diesen technologischen Support leisten zu können, hat die US-Armee unter Ägide ihres CIO ihre 250 wichtigsten Anwendungen in die Cloud migriert. "Darunter eines der größten SAP-ERP-Systeme der Welt", berichtet Iyer und fügt hinzu, die komplexesten Anwendungen zuerst migriert zu haben, was für umfassende Erkenntnisgewinne gesorgt habe.

"Maschinen dürfen niemals automatisch feuern"

Derzeit verfügt die US-Armee über 200 Rechenzentren. Bis 2027 will das Militär die Mietkosten in diesem Bereich um 50 Prozent reduzieren. Statt alle Anwendungen in die Cloud zu hieven, will die Army einige ihrer 3.000 Legacy-Systeme (die zu alt oder nicht Cloud-fähig sind) gänzlich abschaffen.

In den letzten Jahren habe das US-Militär seine Operationen umstrukturiert, um neue Datentypen zu nutzen, erzählt der CIO und fügt hinzu: "Die traditionellen Kampfgebiete Land, Luft und See wurden inzwischen um den Weltraum und den Cyberspace erweitert. Das erforderte enorme Innovationen, wenn es um die Entwicklung von Cloud-Native-Anwendungen geht."

Cyberangriffe innerhalb der USA und in Krisengebieten wie der Ukraine hätten für die aktuelle US-Regierung und das Verteidigungsministerium höchste Priorität. Doch es gebe viele raffinierte Angriffsformen, die erfahrene osteuropäische Hacker jeden Tag verwendeten, meint der IT-Entscheider: "Wir werden es künftig mit einem technisch versierten Gegner zu tun haben, der in der Lage ist, die Kommunikation auf dem Schlachtfeld durch Störsender und elektronische Kriegsführung zu unterbrechen. Wir rechnen damit, dass Cyberkriegsführung zum Einsatz kommt, um unsere Fähigkeiten zu schwächen. Wir müssen deshalb Daten in bislang nicht bekanntem Ausmaß nutzen und operationalisieren."

Um sicherzustellen, dass die Daten, die die US Army sammelt, valide sind, kommen nach Auskunft von CIO Iyer künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen zum Einsatz. So würden absichtlich gestreute Fehlinformationen zuverlässig identifiziert. Allein die schiere Menge der eingehenden Daten mache es unmöglich, sie ohne KI und Supercomputer zu verarbeiten. "Hier kommt die Macht der Cloud ins Spiel", meint Iyer. "Wenn die Cloud und neue Technologien zum gemeinsamen Nenner auf dem Schlachtfeld werden, dann wird über Erfolg oder Misserfolg entscheiden, wie gut wir in der Lage sind, KI- und ML-Algorithmen kreativ zu nutzen."

Eine Entscheidungsfindung auf dem Schlachtfeld könne allerdings schwierig werden, wenn KI im Spiel sei, gibt Iyer zu. Automatisierung sei in Unternehmen effizient, aber in Waffensystemen angesichts möglicher menschlicher Kollateralschäden nicht zulässig: "Unsere Doktrin besagt, dass Maschinen niemals automatisch feuern dürfen - auch nicht im Rahmen konventioneller Kriegsführung", betont der Manager. "Cloud und KI können uns dabei unterstützen, militärischen Befehlshabern kinetische und nicht-kinetische Handlungsoptionen aufzuzeigen. Aber nicht, wenn es um einen Kampf Maschine gegen Maschine geht."

"Es geht darum, demokratische Prozesse zu schützen"

Cloud und KI sind auch die Mittel der Wahl für die US-Armee, wenn es darum geht, die Wahlinfrastruktur der Vereinigten Staaten zu schützen und sowohl Cyberangriffe als auch Desinformationskampagnen zu verhindern. "Es geht darum, unsere demokratischen Prozesse davor zu schützen, untergraben zu werden", verdeutlicht Iyer und verweist auf die von US-Präsident Biden erlassene Cybersecurity Executive Order. "Es gibt jeden Tag buchstäblich Zehntausende von Angriffsversuchen auf unsere Netzwerke. Meiner Meinung nach stehen wir heute schon viel besser da als noch vor zwei Jahren. Dennoch gibt es Grund zur Sorge - unsere Feinde brauchen nur einen erfolgreichen Angriff. Es bleibt also viel zu tun."

Dennoch: Die US Army hat unter Führung ihres CIO bereits etliche Meilensteine erreicht. Zum Beispiel hat man es geschafft, in Zusammenarbeit mit der Carnegy Mellon University eine Talente-Pipeline für Datenwissenschaftler zu etablieren. Schließlich, so Iyer, sei es eine der größten Herausforderungen für das US-Militär, Spitzentalente aus dem Technologiebereich für sich zu gewinnen - zu einem Bruchteil des Gehalts, das in der Privatwirtschaft winke.

Der CIO und seine Kollegen arbeiten darüber hinaus an einer begleitenden Kampagne zur digitalen Transformation. So sollen die Führungskräfte in Pentagon und Verteidigungsministerium darüber aufgeklärt werden, wie Cloud-Assets, Edge Computing und Analytics in der Praxis genutzt werden können: "Alle Befehlshaber müssen das Potenzial der Cloud verstehen und erkennen, wie sie bereits jetzt die Kriegsführung verändert", appelliert Iyer.

Der IT-Entscheider geht davon aus, dass die US-Armee bis zum Jahr 2030 vollständig multidomänenfähig ist und all diese Technologien auf neue Art und Weise für sich nutzt. Dabei inkludiert Iyer explizit die zahlreichen KI-Ressourcen für Bildgebung und Zielerkennung im Weltraum. "Mit jeder Übung, die wir im Feld durchführen, werden wir lernen. Das Gelernte wollen wir auf agile Weise anwenden, um unsere Architektur zu verfeinern, zu bestimmen, welche Daten wir brauchen, und unsere KI-Algorithmen, unsere Taktiken und unsere Doktrin im Feld weiter zu verfeinern", verspricht der Army-CIO. (fm)

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation CIO.com.