Zehn Jahre lang arbeitete die Knorr-Bremse Systeme für Nutzfahrzeuge in München recht erfolgreich mit dem ERP-System "XPPS" von Infor, das in Europa in sechs Niederlassungen installiert war. Allerdings stiegen die Anforderungen an das System laufend, und irgendwann reichte der Funktionsumfang der alten ERP-Software nicht mehr aus.
Deshalb sollten zunächst in den europäischen Niederlassungen sowohl die IT als auch die Prozessabwicklung standardisiert und zukünftige Aktivitäten in Asien miteinbezogen werden. Als ERP-System kam wegen des geforderten Funktionsumfangs nur SAP R/3 in Betracht. Zudem hatte der Unternehmensteil Systeme für Schienenfahrzeuge bereits zuvor erfolgreich seine 24 ERP-Systeme auf SAP R/3 konsolidiert. Ein Ziel aus heutiger Sicht ist es, über beide Unternehmensteile hinweg einen ERP-Standard zu entwickeln, um möglichst effektive Services anbieten zu können.
Projektsteckbrief
Projektart: Ablösung einer alten ERP-Lösung und Einführung von SAP R/3 in allen Niederlassungen in drei Kontinenten.
Branche: Automotive.
Zeitrahmen: Drittes Quartal 2004 bis Mitte 2007.
Stand heute: Rollout in der deutschen Zentrale und in den USA.
Aufwand: Kosten in Höhe von 43 Millionen Euro bis 2009, insgesamt mehr als 11 000 Manntage.
Produkte: SAP R/3.
Dienstleister: SAP, MHP, Adestis, BESD TEAM, Atos Origin, Procon IT, ECS, RWD.
Ergebnis: Erfolgreicher Rollout in Deutschland und den USA.
Herausforderung: die Migration der Altdaten.
Nächster Schritt: Weitere Rollouts in Europa und Asien.
Im Bereich der Nutzfahrzeuge fiel die Entscheidung, auf SAP umzustellen, im dritten Quartal 2004. Geplant war, mit einem gemeinsamen Template und einem Mandanten zu operieren. Dazu wurde das Projekt "Progress" (Process Optimization, Global Reengineering Supported by SAP) aufgesetzt. "Es war von Anfang an geplant, dass das ein Business Reengineering wird und kein IT-Projekt", beschreibt Jens Theuerkorn, Vorstand der Knorr-Bremse AG, die Bedeutung.
Das Vorhaben wurde in letzter Minute erweitert, weil sich die Geschäftsleitung dazu entschloss, auch die US-amerikanische Tochter in das Projekt einzubeziehen: Knorr-Bremse hatte 2002 die alteingesessene Bendix Commercial Vehicle Systems LLC übernommen, die mit einem betagten Mainframe-basierenden ERP-System arbeitete, gehostet von der vormaligen Konzernmutter Honeywell. "Dieses System stand ebenfalls vor der Ablösung, und die amerikanischen Kollegen hatten schon mit der Planung für ein eigenes Rechenzentrum begannen", erinnert sich Oskar Flach, als Geschäftsführer der Knorr-Bremse Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH auch für die Bendix zuständig.
Das Progress-Team nahm Anfang 2005 seine Arbeit auf. Das anspruchsvolle Ziel: ein gemeinsames Template für alle europäischen, asiatischen und amerikanischen Firmen der Nutzfahrzeugesparte zu entwickeln. Das Projektteam, dem außer den eigenen Mitarbeitern auch noch externe Berater angehörten und das mehr als 100 Leute umfasste, mietete eigene Räume. Rückblickend beschreibt Programm-Manager Wilhelm Jakob den Umfang der Mammutaufgabe: "In die Entwicklung des Templates wurden 11 000 Manntage investiert, davon entfielen 3000 Manntage auf die IT, 6000 auf die Business-Abteilungen und 2000 auf die externen Berater."
Für Vorstand Theuerkorn konnte das Projekt nur deshalb erfolgreich absolviert werden, weil Knorr-Bremse über ein sehr gutes Prozess-Know-how verfügte: "Wir waren uns sicher, dass die Prozesse funktionieren würden." Schwierigkeiten bereitete aber die Migration der Altdaten: "Der Aufwand der Migration wurde unterschätzt", gesteht der Vorstand. Zwar gab es – auch von den externen Beratern und der SAP – diverse Best Practices, die auch sehr hilfreich waren. So wurden innerhalb von Progress Testteams gebildet, die Abteilungen wie Einkauf, Montage und Logistik simulierten. Aber wegen der Komplexität und trotz vieler Iterationen gelang es nicht, die gesamten Daten testen zu können. Das erwies sich als Pferdefuß, weil zusätzlich zu den unterschiedlichen Stammdaten in den einzelnen Niederlassungen das neue ERP-Programm seine Besonderheiten zeigte: SAP R/3 reagiert sehr sensibel und genau. Ist beispielsweise der Preis eines Systems mit einem Verfallsdatum gekennzeichnet, dann stoppt das Programm, wenn keine Bestätigung oder ein neuer Preis eingegeben wird. "Das alte XPPS war durchaus robuster und hat in solchen Fällen einfach weitergearbeitet", beschreibt Clemens Keil, CIO der Knorr-Bremse AG, eine der Hürden der Datenmigration.
Stolz ist die Progress-Mannschaft auf die gemeinsame Arbeit am Template, das innerhalb eines Jahres erstellt wurde. Dabei beschritt Knorr-Bremse auch in der Branche Neuland, weil es bislang kaum Unternehmen gibt, die eine derartige Harmonisierung der IT über so viele Unternehmen, Länder und sogar Kontinente hinweg geschafft haben. "Am Schluss waren wir überrascht davon, dass wir über 80 Prozent identische Prozesse erreichten, anfangs wären wir mit 70 Prozent schon zufrieden gewesen", schildert Geschäftsführer Flach den Erfolg.
Unternehmen: Knorr-Bremse AG
Der Knorr-Bremse Konzern ist weltweit führender Hersteller von Bremssystemen für Schienen- und Nutzfahrzeuge. In diesem Umfeld ist das Unternehmen seit über 100 Jahren tätig. Weitere Produktfelder sind Entwicklung, Produktion und Vertrieb von Türsystemen und Klimaanlagen für Schienenfahrzeuge sowie Drehschwingungsdämpfer für Verbrennungsmotoren.
Konzernumsatz 2006: 3,1 Milliarden Euro.
Umsatz Teilbereich Nutzfahrzeuge: 1,968 Milliarden Euro.
Konzernergebnis: 294 Millionen Euro.
Mitarbeiter: 13.000.
IT-Mitarbeiter weltweit: 290.
IT-Gesamtbudget: 65 Millionen Euro.
Der Live-Test der Arbeiten erfolgte Ostern 2007, als die deutschen Standorte auf das neue ERP-System umstiegen. Der Zeitpunkt stand kurzfristig zur Debatte, weil gleichzeitig die gesamte Produktion voll ausgelastet war und in den Werken Sonderschichten gefahren wurden. "Seit dem Start der ersten Schicht am Ostermontag um 22.30 Uhr läuft SAP R/3 produktiv. Bis heute gab es keinen Produktionsausfall", fasst Projektleiter Philippe Maire die kritische Phase zusammen. Mittlerweile hat auch die amerikanische Tochter Bendix umgestellt, weitere Rollouts sind bis Mitte 2009 geplant.
Für die Verantwortlichen besteht der Charme der Lösung darin, dass Progress nicht nur zwei unterschiedliche Brands – Bendix und Knorr-Bremse – integriert, sondern auch die unterschiedlichen Kulturen zusammengebracht hat. " Für unsere Firma war dieses Projekt der beste Prozess nach der Übernahme von Bendix, weil wir damit praktisch die gemeinsame Firma gegründet haben", kommentiert Vorstand Theuerkorn. Aus finanzieller Sicht glaubt Geschäftsführer Flach, dass sich die bis 2009 geplanten Investitionen in Höhe von rund 43 Millionen Euro rechnen werden, da Knorr-Bremse damit gegenüber dem Wettbewerb "einen Niveausprung" erzielt habe. Die Fortführung der Arbeiten scheint auch gesichert, weil die im Projekt bewährte Zusammenarbeit zwischen IT und Fachabteilungen in die Linienorganisation übernommen wurde, so dass sich zukünftig Verbesserungen leicht realisieren lassen.