COVID-19-Eindämmung

Coronavirus aus der Data-Science-Perspektive

20.03.2020
Von   IDG ExpertenNetzwerk


Moritz Strube beschäftigt sich seit Beginn des letzten KI-Frühlings vor mehr als 20 Jahren mit Künstlicher Intelligenz. Der Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler ist Spezialist für Data Science, Statistik, Softwareentwicklung und KI-Frameworks. Er lehrt und hält Vorträge zu Künstlicher Intelligenz, Data Science und Blockchain. Seit Oktober 2021 ist er als CTO Teil der Leitung des Unternehmens InspectifAI, welches 2021 von dem Körber Geschäftsfeld Digital gegründet wurde.

 

Die Nachrichten über das Coronavirus wurden in den vergangenen Tagen von drastischen Maßnahmen zur Eindämmung beherrscht. Aber wann greifen die Maßnahmen gegen COVID-19?
Diese rasterelektronenmikroskopische Aufnahme zeigt SARS-CoV-2 (orange), auch bekannt als 2019-nCoV.
Diese rasterelektronenmikroskopische Aufnahme zeigt SARS-CoV-2 (orange), auch bekannt als 2019-nCoV.
Foto: National Institute of Allergy and Infectious Diseases

Die Coronavirus-Fallzahlen in Deutschland wachsen schnell und folgen mit einer Verzögerung von acht Tagen den Fallzahlen in Italien, wie der Artikel COVID-19 - from a data scientist's perspective darlegt. Die folgende Grafik zeigt die COVID-19 Fälle, veröffentlicht im 2019 Novel Coronavirus COVID-19 (2019-nCoV) Data Repository des Johns Hopkins CSSE:

Die COVID-19 Ausbreitung in Deutschland und Italien, Stand 18.03.2020.
Die COVID-19 Ausbreitung in Deutschland und Italien, Stand 18.03.2020.
Foto: Moritz Strube

Das folgende Diagramm zeigt eine Darstellung des Logarithmus der Falldaten. Dies erlaubt uns, die Wachstumsgeschwindigkeit des Coronavirus besser zu verstehen. Die wackeligen Kurven ergeben sich aus den tatsächlichen Fallzahlen, die geraden Linien stellen die durchschnittliche Entwicklung der Fälle dar. Logarithmus der im 2019 Novel Coronavirus COVID-19 (2019-nCoV) Data Repository des Johns Hopkins CSSE veröffentlichten COVID-19-Fälle:

Der COVID-19-Logarithmus der veröffentlichten Fallzahlen in Deutschland und Italien.
Der COVID-19-Logarithmus der veröffentlichten Fallzahlen in Deutschland und Italien.
Foto: Moritz Strube

Die Steigung der Linien liefert einfache Schätzungen der Wachstumsrate der Fallzahlen. Die geschätzten Werte liegen für den gesamten Zeitraum bei 0,28 für Italien und 0,29 für Deutschland, aber man kann sehen, dass die Wachstumsrate des Coronavirus in Italien abnimmt. Dies zeigt hoffentlich die Auswirkungen der drastischen Maßnahmen, die die italienische Regierung ergriffen hat.

Wann greifen die Coronavirus-Maßnahmen in Deutschland?

Erst in den letzten Tagen hat die Regierung in Deutschland und anderen europäischen Ländern begonnen, ähnliche Maßnahmen wie in Italien zu ergreifen, nachdem die Fallzahlen dramatisch angestiegen waren. Wann können wir mit einem Effekt auf die Entwicklung neuer COVID-19-Fälle in Deutschland rechnen?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die Faktoren berücksichtigen, die die Übertragung bestimmen, und wie die Maßnahmen sie beeinflussen. Dabei sind zwei Konzepte relevant:

  • die zeitveränderliche Reproduktionszahl (Rt), hier definiert als die mittlere Anzahl von Sekundärfällen, die ein typisches infektiöses Individuum an jedem Tag in einer voll empfänglichen Population erzeugt;

  • das Serienintervall V, das die durchschnittliche Zeit beschreibt, die zwischen dem Krankheitsbeginn des Virus-Überträgers und dem Krankheitsbeginn des Virus-Empfängers vergeht

Aus dem WHO Lagebericht 46 ergibt sich ein Schätzwert für die Reproduktionszahl: "...The reproductive number - the number of secondary infections generated from one infected individual - is understood to be between 2 and 2.5 for COVID-19 virus, higher than for influenza...."

Die Maßnahmen zielen darauf ab, die Reproduktionszahl zu verringern, indem die Begegnungen von Menschen stark reduziert werden.

Der Effekt wird sich jedoch erst später in den gemeldeten Fallzahlen zeigen. Jede Neuinfektion heute wird sich im Mittel erst nach Ablauf des Serienintervalls in den neuen Fällen zeigen, das auf 4,7 Tage mit einer Standardabweichung von 2,9 Tagen geschätzt wird. In Kombination mit der Reproduktionszahl bedeutet dies: Jede infizierte Person erzeugt in den nächsten 3-6 Tagen etwa 2-2,5 neue Fälle.

Es kann sogar länger dauern, bis diese neuen Coronavirus-Fälle bemerkt werden. Eine gute Schätzung für diese Verzögerung ist die Zeit von der Infektion bis zum Krankenhausaufenthalt für schwerere Verläufe, die auf 3,9 Tage mit einer Standardabweichung von 9,1 Tagen geschätzt wird. Daher können wir erwarten, dass sich die Maßnahme in etwa 10-14 Tagen auswirken wird. Bis dahin müssen wir mit einem weiteren Wachstum mit einer ähnlichen Wachstumsrate wie der gegenwärtigen rechnen.

Wieviele COVID-19-Fälle wird es noch geben?

Angenommen, es dauert durchschnittlich 10 Tage, bis ein Rückgang des COVID-19-Wachstums zu verzeichnen ist - wie viele Fälle werden wir dann in Deutschland in 10 Tagen haben? Oder in Italien? Anstatt die langfristige Schätzungen für die Wachstumsraten (0,28 für Italien und 0,29 für Deutschland) zu verwenden, lege ich zur Beantwortung dieser Frage die aktuelle zweitägige Wachstumsrate für Deutschland zu Grunde, die 0,23 beträgt und ziemlich stabil zu sein scheint. Die jüngste zweitägige Wachstumsrate für Italien beträgt nur 0,12 und könnte weiter sinken. Daher habe ich für Italien einen Wert von 0,10 angenommen.

Stand 17. März 2020: Prognose mit r = 0,23 für Deutschland und r = 0,10 für Italien.
Stand 17. März 2020: Prognose mit r = 0,23 für Deutschland und r = 0,10 für Italien.
Foto: Moritz Strube

Die Prognose zeigt, dass wir mit einem deutlichen Anstieg der Coronavirus-Fallzahlen in Deutschland rechnen müssen, bevor wir einen Rückgang des durch die Maßnahmen der deutschen Regierung verursachten Wachstums sehen werden. Möglicherweise erreichen die Fallzahlen in Deutschland die von Italien.

Stand 18. März 2020: Prognose mit r = 0,23 für Deutschland und r = 0,10 für Italien.
Stand 18. März 2020: Prognose mit r = 0,23 für Deutschland und r = 0,10 für Italien.
Foto: Moritz Strube

Möglicherweise werden die Daten die Veränderung nicht deutlich zeigen. Neben anderen Faktoren könnte ein Anstieg der Testabdeckung die gemeldeten Fallzahlen erhöhen und den Rückgang der neuen Fallzahlen aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung von COVID-19 kompensieren.

Quellen für diesen Artikel:

2019 Novel Coronavirus COVID-19 (2019-nCoV) Data Repository (John Hopkins CSSE)
Coronavirus disease 2019 (COVID-19) Situation Report - 46
Serial interval of novel coronavirus (COVID-19) infections
Incubation Period and Other Epidemiological Characteristics of 2019 Novel Coronavirus Infections with Right Truncation: A Statistical Analysis of Publicly Available Case Data