Im laufenden Betrieb ein Milliardengeschäft transformieren - wie soll das gehen? Michael Müller-Wünsch, Bereichsvorstand Technology, beschreibt in seiner Bewerbung zum "CIO des Jahres 2022", wie sich Otto vom Händler zu einer digitalen Plattform mit neuen Erlösquellen weiterentwickelt.
Die Firmengeschichte beginnt im August 1949 mit einem Katalog und ein paar Schuhen. Im Hamburger Stadtteil Schnelsen legt der 40-jährige Werner Otto den Grundstein für ein Handels- und Dienstleistungsunternehmen, das heute mehr als 53.000 Menschen beschäftigt und zu den erfolgreichsten E-Commerce-Plattformen in Deutschland gehört.
Doch das über Jahrzehnte erfolgreiche Handelsmodell stieß im Zeitalter des Onlinebusiness und mächtiger US-Konkurrenten wie Amazon an seine Grenzen. Das neue Etappenziel der Hanseaten lautete deshalb: Otto wird eine digitale Plattform, deren Wertschöpfungsmodell sich an einer verbesserten User Experience orientiert - aus Sicht von Kundinnen und Kunden ebenso wie für Partner, Lieferanten und die Mitarbeitenden.
Tech ist ein Vorstandsthema
Um dorthin zu gelangen, braucht es ein erweitertes digitales Angebot, Technologie zum Erschließen neuer Erlösmodelle und die klare Vision, "den Menschen ins Zentrum eines werteorientierten wirtschaftlichen Handelns zu stellen", sagt Müller-Wünsch. Für die "Transformationsreise" definierte er drei kritische Erfolgsfaktoren: eine nachhaltige Veränderung des Mindsets und der Unternehmenskultur, die Erneuerung der Batch-orientierten Prozess- und Technologielandschaft sowie den Ausbau von Digitalkompetenz im gesamten Unternehmen.
Schon seit 2015 ist Müller-Wünsch Vorstandsmitglied bei Otto, die Funktion ist auf der obersten Führungsebene fest verankert. "Unsere Tech-Strategie bietet den nötigen Raum, damit sich alle ganz auf das digitale Plattformgeschäft konzentrieren können", erläutert der promovierte Informatiker. "Strategische Leitplanken" gäben die nötige Orientierung: "Cloud first, but not Cloud only" ist so eine Maxime, auch das Wiederverwenden von Anwendungen und die Vorgabe, Kernaufgaben und -kompetenzen wann immer möglich mit internem Personal abzudecken.
Herzensthemen Talent-Management und Diversity
Auch deshalb liegt Müller-Wünsch das Thema Talent Management am Herzen. Er sieht darin eine Pflichtaufgabe, ebenso in klaren Diversity-Zielen. Mindestens die Hälfte aller neuen Stellen im Tech-Bereich soll mit diversen und weiblichen Kandidatinnen besetzt werden. Zu den strategischen Anforderungen gehören auch eine Feedback- und Change-Kultur, produktorientierte Design Patterns in der Softwareentwicklung und nicht zuletzt der verstärkte Einsatz künstlicher Intelligenz in den Business-Applikationen. Die traditionell in "Plan-Build-Run" strukturierte und auf Effizienz getrimmte IT brach der CIO mit crossfunktionalen Teams auf. Die Devise lautet nun: "You built it, you run it".
Zu den ersten Großprojekten gehörte der Aufbau eines digitalen Marktplatzes mit zusätzlichen Serviceangeboten. Auf der Plattform können Unternehmen ihre Produkte auf eigene Rechnung verkaufen und konkurrieren damit teilweise direkt mit dem Otto-eigenen Angebot. Der Effekt: Das Produkt- und Leistungsangebot verzehnfachte sich innerhalb von 18 Monaten. Otto baute sich damit ein neues Geschäftsmodell auf, das eine zusätzliche Nachfrage im Umfang von mehr als einer Milliarde Euro pro Geschäftsjahr generiert.
Für die Plattform kombinierte das IT-Team alte Softwarearchitekturen mit neuen Systemlandschaften auf Basis einer "nativen Greenfield-Cloud-Applikationsarchitektur", wie Müller-Wünsch es bezeichnet. "Das war auch der Beweis, dass ein inkrementeller Architekturumbau in der laufenden Transformation und bei laufendem operativen Geschäft möglich ist." Unterm Strich, so der CIO, habe die Initiative das hergebrachte Handelsmodell klar in Richtung "Technologie-induzierter Wertschöpfung" verschoben: "Tech ist im Erlösmodell angekommen."
Knackpunkt kultureller Wandel
Müller-Wünsch erwähnt auch die Knackpunkte im noch andauernden Transformationsprozess. Der umfassende kulturelle Wandel stelle die Organisation vor Herausforderungen, manchmal seien die Mitarbeitenden zu stark gefordert. Die gesamte Transformation als ein Minimum Viable Product (MVP) zu denken und Fehler zuzulassen habe sich als erfolgsfördernd erwiesen.
Zum kulturellen Wandel gehören etliche weitere Projekte, die Müller-Wünsch seit seinem Einstieg bei Otto im August 2015 angestoßen hat. Sein Ziel: "Ich habe mir fest vorgenommen, mehr Frauen für meine Tech-Bereiche zu gewinnen und einen noch größeren Beitrag zur Nachwuchsförderung zu leisten." Diese Ziele seien auch in der Tech-Strategie verankert. Mit verschiedenen Bildungsformaten unterstützt Otto Frauen und Kinder dabei, sich technischen Themen anzunähern und einen Werdegang in der IT ins Auge zu fassen. Dazu gehört etwa das hauptsächlich an Frauen gerichtete Weiterbildungsangebot "develop<HER>" samt einer "Kids-Edition", für Lehrkräfte gibt es das Format "TechUcation@School". Auf den Events der "MAIN-Session"-Reihe können sich Interessierte in Sachen KI weiterbilden.
Mit Frederike Fritzsche gibt es bei Otto zudem erstmals die Position "Tech-Ambassador", um Frauen für IT zu begeistern und Kolleginnen eine Bühne zu geben. Weitere Impulse soll das Frauennetzwerk "Plan F" geben. Darüber hinaus unterstützt der CIO mit seinem Team diverse externe Initiativen, darunter die Non-Profit-Organisationen Hacker School und ReDI School of Digital Integration sowie den bundesweit ausgerichteten Digitaltag.
Mutmacher für andere Unternehmen
Die Jury zum "CIO des Jahres 2022" lobt insbesondere das Changemanagement von Müller-Wünsch und verleiht ihm den 1. Platz in der Kategorie Großunternehmen. Ihm sei es gelungen, "ein Umfeld zu etablieren, in dem solche Veränderungsprozesse erfolgreich umgesetzt werden können", kommentiert Juror Martin Peuker, CIO der Berliner Charité. Das Vorgehen sollte anderen Unternehmen und IT-Bereichen Mut machen, überkommene Modelle und Denkweisen aufzubrechen. Webasto-CIO und Jurymitglied Thomas Mannmeusel urteilt: "Ein außerordentlich innovatives und ambitioniertes Projekt, mit dem Anspruch, den amerikanischen Platzhirschen Paroli zu bieten. Ich wünschte, wir hätten mehr Otto-ITs in Europa."