Digitalisierungstreiber Corona?

Chancen und Versäumnisse im Klinikbetrieb

29.04.2021
Von  und
Claudia E. Gschwind ist Gründerin und Geschäftsführende Gesellschafterin der HealthCorp Partners GmbH sowie Vorsitzende des Verwaltungsrats der HealthCorp Partners AG in der Schweiz. Sie berät Unternehmen der Gesundheitsindustrie bei der Besetzung von Top-Positionen und in Fragen der Personalstrategie.
Jürgen Stoll ist Managing Partner und Gründer von HealthCorp Partners. Darüber hinaus ist er Mitglied des Advisory Boards von GE Healthcare und Dozent im Bereich HealthCare Management.
Warum kommt die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen nicht voran? Unsere Autoren haben dafür mehrere Gründe ausgemacht.
Die Digitalisierung könnte Ärzte und Pflegekräfte entlasten, doch häufig fehlt es an standardisierten Prozessen.
Die Digitalisierung könnte Ärzte und Pflegekräfte entlasten, doch häufig fehlt es an standardisierten Prozessen.
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Die aktuelle Corona-Pandemie legt ihre Finger in die Wunden unseres Gesundheitssystems. Bereits 2012 warnte eine Studie des Wirtschaftsprüfungsunternehmens PriceWaterhouseCoopers (PwC) vor einem eklatanten personellen Engpass: Bis zum Jahr 2030 mangele es an 106.000 Ärzten, in der Pflege werde der Personalnotstand noch deutlicher: Insgesamt fehlten dort 575.000 Arbeitskräfte bis 2030. Ebenso dringlich wie die Behebung des personellen Engpasses sei die Modernisierung der Schnittstellenarbeit in Kliniken.

Hier braucht es einen Sprung aus der Kreidezeit ins digitale Heute, denn gerade im Hinblick auf Pflegenotstand und Ärztemangel könnte die digitale Erfassung von administrativen Prozessen eine Entlastung von Ärzten und Pflegekräften darstellen. Es fehlen generell Mitarbeiter, aber vor allen Dingen fehlen diejenigen, die künftige System- und Prozesslandschaften verstehen und für Dritte transparent darstellen können.

Digitalisierung kann in der deutschen Kliniklandschaft nur dort gelingen, wo bereits vor Corona die Prozesse im Alltag entsprechend organisiert und womöglich standardisiert wurden. Erst dann macht es Sinn, sich mit der Digitalisierung eines übergeordneten Prozesses zu beschäftigen. Es werden also ganze Abteilungen in den sogenannten Support-Bereichen notwendig sein, die heute so noch gar nicht vorhanden und in der Pandemie auf die Schnelle auch nicht zu schaffen sind.

Datenaustausch versus Datenschutz

Zwar hat kaum ein anderer Wirtschaftszweig in der aktuellen Krise so viel Innovationsbereitschaft gezeigt wie der Gesundheitsbereich. Eine schnell und vorrangig unter Datenschutzaspekten entwickelte Corona-Warn-App und eine Verbesserung der Telemedizin reichen jedoch kaum aus, um die Lücken im digitalen Datenaustausch gerade in der Administration von Gesundheitsdaten an deutschen Kliniken zu schließen. Die bislang vom Gesundheitsministerium gestellten Weichen für die Digitalisierung beschränken sich bislang auf die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) im Januar diesen Jahres, das E-Rezept, die Schaffung eines neuen Zugangs für digitale Gesundheitsanwendungen und das Voranbringen der Telemedizin.

Moderne, smarte Medizin - in Deutschland häufig ein Wunschtraum, das Gesundheitssystem steckt noch in der Kreidezeit fest.
Moderne, smarte Medizin - in Deutschland häufig ein Wunschtraum, das Gesundheitssystem steckt noch in der Kreidezeit fest.
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Eigentlich stünde die Medizin vor einem großen Innovationssprung, der in vielfältiger Weise vor allem auch die Krankenhäuser betrifft. Nach einer Studie von PriceWaterhouseCoopers "Sherlock in Health" könnte unter anderem der breite Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) im Gesundheitswesen nicht nur helfen, schwere Erkrankungen früher zu erkennen und Millionen Menschen besser zu therapieren. Es ließen sich damit auch die prognostizierten Gesundheits- und Folgekosten in Europa binnen zehn Jahren um eine dreistellige Milliardensumme senken. Eigentlich eine Win-Win-Situation, die aber nicht herbeigeführt werden kann, weil es an Personal mangelt - ein Teufelskreis.

Mitarbeiter für Projekte fehlen

So müssten Mitarbeiter für Projektphasen freigestellt werden, um Digitalisierungsprojekte zu begleiten. Dieser Prozess ist nicht von heute auf morgen realisierbar - er verbraucht Human Resources über Jahre. Blickt man in die freie Wirtschaft, wird deutlich, dass die Digitalisierung eines jeden Unternehmens eine Herausforderung darstellt - noch dazu, wenn diese Veränderungen im laufenden Geschäft vorgenommen werden. Wenn das operative Geschäft zusätzlich beispielsweise durch die Corona-Pandemie lahmgelegt wird, ist selbst der größte Fördertopf unzureichend - denn es fehlt schlichtweg an Personal.

Digital statt Papier? Im Januar 2021 wurde die elektronische Patientenakte eingeführt.
Digital statt Papier? Im Januar 2021 wurde die elektronische Patientenakte eingeführt.
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Corona bedeutet nämlich im Klinikalltag vor allem eines: Dauerausnahmezustand, und das seit einem Jahr. Kliniken haben oft mehrere hundert Mitarbeiter ohne eigenen Systemzugang, die aber trotzdem informiert und geschult werden müssen. Es wird 24 Stunden an 365 Tagen gearbeitet. Das sind keine Standorte, an denen am Wochenende, in Randzeiten oder in einer Produktionspause Schulungen, Systemtests oder Systemumstellungen vorgenommen werden können.

Der Gesetzgeber springt, wie so oft, zu spät bei und versucht den Flächenbrand nur punktuell zu löschen: Seit 1. Januar 2021 stehen nun rund 4,3 Milliarden Euro aus dem Krankenhauszukunftsfonds für Digitalisierungsprojekte zu Verfügung. Doch wer hat angesichts einer aktuell Dritten Welle freie Kapazitäten, um sich gerade jetzt einem Thema zu widmen, das seit Jahren im Dornröschenschlaf liegt, beziehungsweise von einer Datenschutzdebatte in die nächste geführt wird? Wie oben bereits beschrieben, fehlt es an Personal und den notwendigen Strukturen, sich mit diesem Thema abteilungsübergreifend auseinandersetzen. Schade, meinen wir: Denn gerade in der Pandemie hätten sich digitalisierte Prozesse bezahlt gemacht. Nicht nur monetär, sondern vor allem in der Beschleunigung der gesamten Administration auf Ebene der Landkreise und Gesundheitsämter, der Kliniken und Impfzentren.

Ein weiteres Schlagwort - gerade im Klinikbetrieb - ist die hinlänglich lang diskutierte elektronische Patientenakte. Hier wurde stets Datenschutz gegen Digitalisierung abgewogen, die Vorteile für alle, Patienten wie Ärzte, nicht ausreichend nachvollziehbar gemacht. Seit Januar 2021 müssen nun alle gesetzlichen Krankenversicherer ihren Kunden eine elektronische Patientenakte anbieten. Damit haben Patienten nun einen gesetzlichen Anspruch darauf, dass ihr Arzt oder ihre Ärztin auf Wunsch die E-Akte auch befüllt. Allein diese E-Akte hätte bei stationär zu behandelnden COVID-Patienten enorme Zeit gespart, Vorerkrankungen wären damit per Knopfdruck bekannt ohne jeglichen Recherche- und Zeiteinsatz der behandelnden Ärzte.

Smart Hospital in Essen

Die Zeit des Zögerns ist vorbei, Handeln tut Not: Dabei hilft ein Blick auf die einzelnen Leuchttürme in der Kliniklandschaft, etwa das Smart Hospital der Universität Essen. Hier wird Digitalisierung gelebt - Best Practice. Digitale Unterstützungssysteme helfen dabei, Ärzte und Pflegekräfte wieder patientennah einzusetzen und die Patienten verstärkt in den Fokus der Behandlung zu stellen - Papierarbeit war gestern. Das digital gelenkte, intelligente Krankenhaus, in dem Befunde und Maßnahmen des medizinischen Personals ebenso in eine elektronische Krankenakte fließen wie die über medizinische Geräte generierten Daten, schafft Transparenz für alle Beteiligten am Behandlungsprozess. Mit der hier gelebten Digitalisierung werden auch neue Mitarbeiterprofile bzw. Mitarbeiterqualifikationen notwendig.

Smart Hospitals mit digitalen Unterstützungssystemen gibt es hierzulande nur in vereinzelten Leuchtturmprojekten.
Smart Hospitals mit digitalen Unterstützungssystemen gibt es hierzulande nur in vereinzelten Leuchtturmprojekten.
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Für viele neue Stellenprofile gibt es offiziell noch keine richtige "Bezeichnung". Die Situation erinnert an den vor einigen Jahren in der Pharmaindustrie neu zu etablierenden Bereich des "Market Access". Spätestens mit der Einführung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (kurz: AMNOG), welches 2011 in Kraft getreten ist, mussten Pharma-Unternehmen ganze Market-Access-Abteilungen aufbauen, die vorher so nicht vorhanden waren. Damals waren die Aufgaben, die internen Schnittstellen und das Mitarbeiterprofil teilweise noch recht ungenau beschrieben und Headhunter mussten mit viel Gespür Mitarbeiter suchen, die in der Lage waren, sich schnell mit den neuen AMNOG-Prozessen vertraut zu machen und darüber hinaus aber auch das Gesamtkonzept der Zusatznutzenbewertung verstanden.

Der Digitalisierungsgrad einer Klinik wird gerade für die neuere Generation von Ärzten ein zunehmend wichtiger werdendes Entscheidungskriterium bei der Stellensuche sein. Die Nase vorn haben dabei die universitären Einrichtungen und Schwerpunkt-Krankenhäuser, die schon seit längerem eigene Programme aufsetzen, um digital-affine Ärztinnen und Ärzte bei ihrer Stellensuche zu erreichen. Größere Probleme haben damit die kommunalen Häuser in ländlichen Gegenden, um Talente anzuziehen. Aus unserer Sicht ist das eine gefährliche Entwicklung, die nur durch einen gemeinsamen Kraftakt aufgehalten werden kann: einem breiten Konsens pro Digitalisierung und Modernisierung unseres Gesundheitswesens!