FinTech, InsurTech, PropTech und AgTech. So bezeichnen sich Startups verschiedenster Kategorien, die teilweise aus disruptiven, jahrzehntealten Branchen hervorgegangen sind. Laut der Studie „KPMG Pulse of Fintech” stieg das Volumen aller Venture Capital-, M&A- und Private Equity-Investitionen in FinTechs 2021 auf 210 Milliarden Dollar – das sind 68 Prozent mehr als 2020 (125 Milliarden Dollar). Die Gemeinsamkeit dieser Newcomer besteht darin, dass sie in der Lage sind, althergebrachte Prozesse durch moderne Technologien umzukrempeln.
Beispiele für diesen Trend gibt es unzählige: Websites wie Redfin und Zillow machen Immobilienagenturen Konkurrenz, denn sie erlauben Kunden, ihr Haus mit nur einem Mausklick selbst zu verkaufen. Robo-Advisors wie Robinhood ermöglichen erfahrenen und weniger erfahrenen Kleinanlegern ein nahezu provisionsfreies Trading. Wie können hier etablierte “Legacy-Unternehmen” mithalten? Das Zauberwort lautet Automatisierung. Sie öffnet die Türen zur Disruption – und der Einstieg ist vielleicht gar nicht so schwierig, wie es scheint.
Der kulturelle Wandel in der Automatisierung
Das Geheimnis liegt darin, klein anzufangen und dann zu skalieren, um schließlich möglichst viele Prozesse zu automatisieren. Selbst geringfügige Automatisierungen können einen großen Unterschied im Hinblick auf das Kundenerlebnis ausmachen.
Das Problem bei vielen Automatisierungsprojekten ist jedoch, dass fälschlicherweise angenommen wird, dass das Wort „Legacy“ sich nur auf die Technologie bezieht. Dabei geht es vielmehr um das Zusammenspiel von Menschen, Prozessen und Technologie.
Betrachten wir zuerst die Komponenten „Menschen“ und „Prozesse“. Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter haben in der Regel den Überblick über die Bereiche des Unternehmens, die sich am stärksten auf das Kundenerlebnis auswirken. IT-Führungskräfte hingegen sind diejenigen, die den technologischen Wandel realisieren können. In vielen Unternehmen kommunizieren diese beiden Personengruppen nicht regelmäßig miteinander – und selbst wenn sie es tun – reden sie womöglich aneinander vorbei.
Bei der Verständigung zwischen IT und Fachabteilung kann zum Beispiel BPMN (Business Process Model and Notation) unterstützen. Das ist ein Standard zur grafischen Darstellung von Geschäftsprozessen in Form von leicht verständlichen Ablaufdiagrammen. BPMN Tools können die Beteiligten bei der Frage unterstützen, welche Prozesse in welcher Reihenfolge automatisiert werden sollen.
Verknüpfung von Automatisierung und Orchestrierung
Sobald die Prozessmodelllierung abgeschlossen ist, hilft die Technologie, den eigentlichen Prozess zu automatisieren. Automatisierung umfasst dabei jedoch viel mehr als nur RPA-Bots (Robotic Process Automation). Sie erfordert eine End-to-End-Prozessautomatisierung mit einer Orchestrierungsschicht, die die jeweiligen Akteure der Prozesse (Menschen, Systeme oder sogar physische Geräte) per API miteinander verbindet. Wenn dies von Anfang an gelingt, ist die Automatisierung so einfach wie die Verbindung dieser APIs im gesamten Unternehmen.
BPMN-Beispiel
Ein Beispiel aus der Versicherungsbranche verdeutlicht die Bedeutung von BPMN: Ein alteingesessenes Versicherungsunternehmen hat Markenvertrauen und -glaubwürdigkeit aufgebaut, sieht sich aber dennoch mit harter Konkurrenz durch unbekannte InsurTech-Startups konfrontiert. Das Unternehmen verfügt über Fachwissen zu Versicherungen, Underwriting und Schadenprozessen – es gibt also keinen Grund, warum dieses Fachwissen nicht auch auf die Automatisierung angewendet werden kann.
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Die Schlüsselfragen, die sich diese Versicherung stellen muss lauten:
Wie können wir die richtigen Prioritäten setzen, den Mehrwert veranschaulichen und dabei noch Erkenntnisse gewinnen?
Wie können wir ein hervorragendes Kundenerlebnis bieten und gleichzeitig in großem Umfang effizient arbeiten?
Die Versicherung könnte sich z. B. dazu entscheiden, bei der KFZ-Versicherung zu starten, indem der Prozess der Schadensabwicklung direkt nach einem Unfall automatisiert wird. In einer solchen Stresssituation ist eine schnelle und bei Bedarf flexible Schadenregulierung am wichtigsten.
In einem automatisierten End-to-End-Prozess könnte eine mobile App nach dem Eingang einer Aufprall-Meldung, die über ein Smartcar gesendet wurde, eine Benachrichtigung an den Benutzer senden. Erste Fragen in der Kontaktaufnahme könnten sein, ob ein Unfall geschehen sei und ob es dem Versicherungsnehmer gut gehe. Durch die Rationalisierung dieses Prozesses über die App hat der Kunde einen zentralen Ort, an dem er Fotos, Kontaktinformationen der anderen beteiligten Partei und mehr hochladen kann.
Durch die Neugestaltung eines ineffizienten Schadenprozesses und die Anwendung der gleichen allgemeinen Methodik kann die Versicherungsgesellschaft damit fortfahren, andere ineffiziente Prozesse Schritt für Schritt anzugehen.
Die Sprache der Automatisierung lernen
Der schwierigste Teil einer echten Transformation ist oft der Anfang selbst. Die Automatisierung zu verstehen, gleicht dem Erlernen einer Sprache. Die Anwendung von Standards wie BPMN kann IT- und Fachabteilungen bei der effektiven Zusammenarbeit helfen. Sobald Unternehmen ihre internen Silos überwunden haben, können sie klar kommunizieren und die Automatisierung schaffen, die sie brauchen.
Das Beste an diesem Ansatz ist, dass die Automatisierung den Teams ein direktes Echtzeitverständnis dessen verschafft, was in ihrem Unternehmen passiert und wo Optimierung nötig ist. Eine kontinuierliche Verbesserung ist oft das Zünglein an der Waage und entscheidet, ob ein Unternehmen ein erstklassiges Kundenerlebnis bietet oder seine jahrzehntelange Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt. (bw)