Future CIO

"Agilität und Laisser-faire werden mitunter verwechselt"

05.08.2021
Von 
Heinrich Seeger arbeitet als IT-Fachjournalist und Medienberater in Hamburg. Er hat über 30 Jahre IT-journalistische Erfahrung, unter anderem als Gründungs-Chefredakteur des CIO Magazins. Er entwickelt und moderiert neben seiner journalistischen Arbeit Programme für Konferenzen und Kongresse in den Themenbereichen Enterprise IT und Mobile Development, darunter IT-Strategietage, Open Source Meets Business, droidcon und VDZ Tech Summit. Zudem gehört er als beratendes Mitglied dem IT Executive Club an, einer Community von IT-Entscheidern in der Metropolregion Hamburg.
Wie sich Unternehmen kulturell und organisatorisch verändern und was das für CIOs, CTOs und CDOs mit sich bringt - darüber diskutierten Praktiker im Rahmen eines CW-Round-Table.
Unternehmen aller Branchen unterliegen einem drastischen Wandel. Das bleibt nicht ohne Folgen für CIO, CTO und CDO.
Unternehmen aller Branchen unterliegen einem drastischen Wandel. Das bleibt nicht ohne Folgen für CIO, CTO und CDO.
Foto: SeventyFour - shutterstock.com

Im Rahmen dieses CW-Round-Table diskutierten Praktiker aus großen, mittelgroßen und Start-up-Unternehmen, wie sich Unternehmen in Sachen Kultur und Organisation verändern und welche Folgen das für C-Level-Entscheider wie den CIO haben wird - am Anfang wurde das "Du" vereinbart.

"Wenn du agil sein willst, solltest Du einen Plan haben"

CW: Was ist unter Agilität zu verstehen: Handeln nach Frameworks wie Scrum und Kanban oder Geschwindigkeit und Flexibilität im Management?

Carsten Priebs: Agilität ist Reaktion auf Umweltveränderungen. Wenn Du agil sein willst, solltest Du einen Plan haben, aber auch bereit sein, ihn umzuwerfen. Daraus lassen sich Spielarten wie Scrum ableiten, aber das Entscheidende ist die Mentalität.

CW: Wird das bei der Aareal Bank geteilt, auch im Nicht-IT-Management?

Holger Spielberg: Als Bank sind wir natürlich stark reguliert, was die Agilität einschränkt. Uns treibt um, wie wir bankspezifische Themen trennen können von solchen, wo wir leichtfüßiger vorangehen wollen.

Ulrike Meyer: Als ich vor zweieinhalb Jahren die IT dazubekommen habe, traf Agil auf Wasserfall. Wir haben Daily Stand-ups und andere agile Methoden in die IT übertragen und es hat funktioniert.

Ulrike Meyer, Chief Information and Digitization Officer (CIDO), Willenbrock Fördertechnik
Ulrike Meyer, Chief Information and Digitization Officer (CIDO), Willenbrock Fördertechnik
Foto: Willenbrock Fördertechnik GmbH & Co. KG

Thomas Siekmann: Agilität und Laisser-faire werden mitunter verwechselt. Unternehmen müssen bei Bedarf die pure Agilität mit traditionellen Frameworks verbinden, um nicht in organisatorisches Herzflimmern zu geraten.

Thorsten Fuchs: Ja, man verliert in Transformationsprozessen leicht den Kontext aus den Augen, wenn man alle drei Monate ans Kanban-Board geht, um eine neue Strategie zu entwickeln.

Carsten Osius: Für mich ist Agilität ein Mindset; es bedeutet, in Ergebnissen zu denken. Ich bin agil, wenn ich ein Projekt so herunterbreche, dass ich einzelne nutzbare Zwischenergebnisse realisieren kann.

CW: Vivien, hat man solche Probleme überhaupt in einem Unternehmen mit acht Mitarbeitern, von denen ein Viertel auch noch Gründer sind?

Vivien Dollinger: Ja, absolut. Wir müssen auch unsere langfristigen Ziele im Blick behalten: Ich arbeite seit fast zwei Jahren an einem Abschluss mit Siemens; die haben ganz andere Entscheidungswege.

Dr. Vivien Dollinger, CEO und Mitgründerin, ObjectBox
Dr. Vivien Dollinger, CEO und Mitgründerin, ObjectBox
Foto: Techstars Headshots / ObjectBox GmbH

CW: In Start-ups machen alle alles: Strategie, Organisation, Produktentwicklung, Marketing … Wie rettet man diese Agilität in komplexe Strukturen hinüber und welche Rolle spielen CIO, CTO und CDO dabei?

Mirko Ross: Man vergisst leicht, dass Agilität mit mehr Kontrolle einhergeht. Man muss häufiger berichten, nicht erst am Jahresende. Wenn sich Leute aus Konzernen bei uns bewerben, tun die sich mit diesem hohen Level an Kontrolle oft schwer. Aber das muss sein, weil man so schnell und wendig ist. Der Formel-1-Fahrer Stirling Moss hat mal gesagt: "If everything is under control you are just not driving fast enough."

CW: Carsten Priebs, welche Rolle spielen CIO, CTO und CDO beim Bewahren beziehungsweise Schaffen von Agilität?

Priebs: Um agil sein zu können, muss man das Umfeld kennen. Methoden wie Daily Stand-ups verbinden die Ebenen miteinander. Es gibt bei uns kein Team mehr, das die nicht macht - bis hin zum Helpdesk. Seit Beginn der Pandemie gibt es jetzt auch ein wöchentliches Meeting mit dem Management Board. Das sorgt für Verknüpfung zwischen Top Level, mittlerer Ebene und dem Operativen.

Carsten Priebs, CIO und CDO (DACH), Randstad
Carsten Priebs, CIO und CDO (DACH), Randstad
Foto: Randstad Deutschland

"Fehlerkultur ist für mich ein Unwort"

CW: Ulli, bei Willenbrock sind agile Methoden vom Digitalbereich in die vorher traditionell organisierte IT übertragen worden. Du hast beide Hüte auf. Reicht das Mindset aus, um agil zu sein?

Meyer: Wir sind mit 600 Leuten relativ klein. Und für uns war es schon ungewöhnlich, dass die IT überhaupt mit am Tisch sitzt. In traditionellen Strukturen berichtet die IT noch sehr häufig an den CFO. Und wenn der vorher keine Berührung mit der CIO-Welt hatte, treffen zwei Welten aufeinander. Unternehmen sollten darüber nachdenken, ob die IT nicht ins Top-Management gehört.

Osius: Ob man als CIO oder CTO erfolgreich ist, kann man daran sehen, ob die Fachbereiche einen am Tisch haben wollen. Wenn ich erzähle, wie toll meine Serverschränke sind, dann bin ich nicht dabei. Wenn ich mich aber von der Technik löse und zeige, wie man damit im Business schneller wird, dann wollen die, dass ich dabei bin.

Meyer: Bei uns saß der damalige CIO nicht mit am Management-Tisch. Keiner von der IT hatte eine Chance, über Projekte zu berichten; das lief immer nur top-down. Der CFO hat nur mitgeschrieben, wenn über die IT geschimpft wurde.

Fuchs: Management-Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource, die meist entlang der Berichtslinien verteilt wird. Und man kann als CIO zwar ohne IT-Fachkenntnis im Management arbeiten, aber exzellent wird es nur mit.

Spielberg: Strategische Diskussionen finden bei uns unter Beteiligung der IT statt. Die IT muss die Agenda in Sachen Technologienutzung setzen. Dann kommen die Fachbereiche vom reinen Wunschdenken weg, hin zu der Überlegung, was machbar und was der Impact ist.

Holger Spielberg, Group Technology Officer, Aareal Bank
Holger Spielberg, Group Technology Officer, Aareal Bank
Foto: Aareal Bank AG

Dollinger: In einem Start-up ist man zufrieden, wenn man gemeinsam etwas Gutes geschaffen hat. In klassischen Organisationen mit unterschiedlichen Abteilungen und unterschiedlichen Zielen achtet man dagegen auf die Verteilung der Claims. Um agil zu sein, braucht man ein Changemanagement in den Köpfen, damit nicht mehr über den Headcount oder ähnliche Kenngrößen definiert wird, wie mächtig man ist.

Siekmann: Gemeinsame Ziele sind wichtig. Aber es muss auch Arbeitsteilung geben. Nicht alles, was in Großunternehmen mal versucht wurde, ist in Kleinunternehmen automatisch schlecht.

Ross: Wenn wir als Start-up mit Konzernen zusammenarbeiten, gibt es einen Clash of Cultures. Gibt es bei einem Projekt keine Regelung, sieht man in Konzernen zwei typische Reaktionen. Die einen sagen: Das mache ich nicht, denn es gibt keine Regelung dafür. Und die anderen sagen: Prima, das mache ich, es gibt ja keine Regelung dafür! Letztere sind die Agilen, die etwas vorantreiben.

Mirko Ross, CEO und Gründer, asvin
Mirko Ross, CEO und Gründer, asvin
Foto: asvin GmbH

Meyer: Ich habe in unserem Konzern (Willenbrock gehört zu Linde und Linde zu Kion) über die beiden erwähnten Typen hinaus einen dritten kennengelernt. Und der macht mir Angst: Der findet erstmal alles gut, lächelt dich nett an - und sitzt es dann aus. Damit stirbt jede Agilität.

Osius: Ulli, sind das vielleicht die Menschen, die in einer miserablen Fehlerkultur gelernt haben, besser die Klappe zu halten, und die Erfahrung gemacht haben, dafür belohnt zu werden?

Meyer: Genau!

Spielberg: Fehlerkultur ist für mich ein Unwort. Ich finde, es sollte Lernkultur heißen und so gelebt werden: Freiräume, in denen man aus Fehlern lernt. Das ist auch ein Aspekt der Agilität.

Siekmann: Ich glaube, man kann frustrierte Leute aus der Frustration herausholen, wenn man ihnen die Angst nimmt, etwas falsch zu machen. Denn aus Angst entscheiden sie ja nicht und minimieren Risiken. Leider ist so ein Verhalten im statistischen Mittel ja ganz erfolgreich, wenn man in Organisationen weiterkommen will.

Thomas Siekmann, CIO, Exasol
Thomas Siekmann, CIO, Exasol
Foto: www.mark-lehmann.de / Exasol AG

CW: Man sagt, in Start-ups wird die IT oft von CTOs verantwortet; in gereifteren Organisationen von CIOs. Ist das so und, wenn ja, warum?

Spielberg: Bei meinem Eintritt ins Unternehmen gab es einen CIO. Meine Rolle wurde umfassender angelegt und schließt die IT, aber auch Innovation und Digitalisierung ein. Mir war es wichtig, nicht als CDO aufzutreten, der tolle Slides vorlegt und Hackathons veranstaltet, sondern operative Verantwortung zu übernehmen.

Priebs: Bei Start-ups habe ich tatsächlich eher CTOs kennengelernt. Da gibt es dann unter den Gründern üblicherweise den Finanzer, den Vertriebler und den, der die Technik macht. Was mich wundert, ist Holgers Aussage, dass er als CTO über dem CIO sitzt. Ich hätte getippt, dass der CIO etwas breiter aufgestellt ist, weil er ja noch die Governance-Funktion hat.

Fuchs: Früher gab es ja die technische und die kaufmännische EDV. Als die später in vielen Unternehmen zusammengeführt wurden, machte man oft den Kaufmann zum CIO, weil er das größere Budget hatte. Bei den Start-ups schwenkt das jetzt wieder um: Im Prinzip ist alles technische Produkt-DV.

Thorsten Fuchs, Senior Director Marketing Central Europe, ServiceNow
Thorsten Fuchs, Senior Director Marketing Central Europe, ServiceNow
Foto: Service-now.com GmbH

Siekmann: Bei Start-ups gibt es oft einen CTO, weil sie technische Produkte erzeugen. In traditionellen Unternehmen dagegen hat die IT nur einen Anteil am Produkt. Langfristig hängt der Unternehmenserfolg auch davon ab, wie die Prozesse aufgesetzt und Datenflüsse geregelt werden. Und das ist die Aufgabe des CIOs.

Priebs: Ich möchte eine Lanze für die guten, alten Konzerne brechen. Die schaffen es, mit Arbeitsteilung und Hierarchie, dass tausende ganz normale Menschen gemeinsam etwas Großartiges schaffen. Wir müssen den Menschen außerhalb der digitalen Welt eine Brücke bauen.

Spielberg: Titel wie CIO, CTO, CDO sind für mich wie APIs: Wenn ich das Interface kenne, kann ich meine Message passend abladen.

Frauenquote in der IT?

CW: Themenwechsel - was spricht für, was gegen eine Frauenquote in der IT?

Ross: Cybersecurity ist männlich und weiß dominiert und wir fahren den Karren gerade komplett an die Wand. In unserer Welt herrscht eine aggressive Sprache, Diskussionen sind oft wie Krieg. Frauen haben einfach die bessere Sozialkompetenz. Ob es eine Quote sein muss, weiß ich nicht. Aber man schafft mehr, wenn die Teams diverser sind.

Osius: Wenn man mir eine Quote vorgeben würde, wüsste ich nicht, woher ich die Menschen nehmen soll. Ich hatte in den letzten Jahren kaum einmal die Situation, unter mehreren Bewerbern aussuchen zu können, wovon eine weiblich war. Wir müssen klären, wie wir Mädchen stärker für MINT-Berufe begeistern, vorher wird eine Frauenquote kaum realisierbar sein.

Carsten Osius, CTO, RMS Radio Marketing Service
Carsten Osius, CTO, RMS Radio Marketing Service
Foto: faceland.com / RMS Radio Marketing Service GmbH & Co. KG

Dollinger: Wir haben ein strukturelles gesellschaftliches Problem. Meine Tochter ist sieben, und Kinderbücher sind ein Graus. Was da an Vorurteilen drinsteckt! Auch das soziale Umfeld, etwa in der Schule, prägt Bilder und bewirkt Vorurteile. Da müssen wir ansetzen.

Meyer: Wenn wir die Diversität schon hätten, dann wäre ich dafür, die Besten zu nehmen. Ich bin nicht für die Frauenquote; ich will anerkannt werden für das, was ich leiste.

Siekmann: Das Bild verändert sich, wenn man global sourct. Wir haben in unserem internationalen Team einen wesentlich höheren Anteil an Frauen, an Diversität überhaupt.

Meyer: Mein Vater war Programmierer und ich bin der Junge, den er nicht bekommen hat. Ich habe immer oben bei Papa gesessen und Grafikkarten zusammengesteckt, bin da also völlig spielerisch rangegangen. Aber, Vivien: Leute wie Du und ich sind in der IT-Welt noch eine Seltenheit.

Priebs: Ich freue mich auch über jeden ausländischen Mitbürger in meiner IT, weil die ganz andere Erfahrungen und Sichtweisen mitbringen. Ein Appell und ein Rat: Nutzt alle Diversität, die ihr kriegen könnt! Nehmt im Zweifel sogar 80-Prozent- statt 90-Prozent-Kandidaten!