Neurobiologische Erkenntnisse

Agilität trifft Hirn

28.11.2014
Von 
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Ursprünglich entstanden ist das Konzept der Agilität im Bereich der Softwareentwicklung. Aber längst ist die Idee des agilen Projektmanagements in unterschiedlichste andere Bereiche und Branchen vorgedrungen – nicht immer ohne Widerstand.
Nur wenn in die Projektzielsetzung auch persönliche Ziele des Mitarbeiters einfließen und zum Nutzen des Projekts verwendet werden, dann gibt es Drogen für unser Gehirn.
Nur wenn in die Projektzielsetzung auch persönliche Ziele des Mitarbeiters einfließen und zum Nutzen des Projekts verwendet werden, dann gibt es Drogen für unser Gehirn.
Foto: ktsdesign - Fotolia.de

Schnellere Time-to-Market bei maximaler Flexibilität. Das sind zentrale Versprechen, die agile Vorgehensmodelle geben - und die sie zumeist auch einlösen. Wenn man sich das ursprüngliche "Manifesto for Agile Software Development" aus dem Jahr 2001, das Agile Manifest, vor Augen führt, findet man diesbezüglich allerdings keine Aussagen. Gleich der erste der vier Grundsätze im Manifest - "Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge" - liefert aber bereits einen wesentlichen Hinweis darauf, warum Agilität in der Praxis so erfolgreich ist. Nach vielen Jahren des tayloristischen Prinzips, bei dem der Plan und die Abläufe eine zentrale Rolle gespielt haben, rückt in der agilen Welt endlich wieder der Mensch in den Mittelpunkt. Selbstorganisation und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen - dies führt zur Motivation der einzelnen Mitarbeiter und damit zu erfolgreichen Produkten. In der Praxis scheint diese These bereits vielfach belegt. Der Brückenschlag zwischen Agilität und Neurobiologie sorgt jetzt für ihre wissenschaftliche Unterstützung.

Die zwei menschlichen Lernsysteme

Durch die Komplexität unternehmerischen Handelns angeregt, befindet sich ein Team permanent in einer Situation des Ausbalancierens dynamischer Zustände. Wer erfolgreiche Teams will, muss sie also in die Lage versetzen, diese Komplexität zu beherrschen. Genauso wie einem Drahtseilakrobaten das Balancieren mit einer Stange nur gelingt, wenn er den dafür erforderlichen Raum hat, benötigen auch die Mitarbeiter eines agilen Teams Freiraum. Aus Perspektive des Managements besteht die vorrangige Aufgabe darin, die Kreativität des Teams zu fördern und so einen wesentlichen Ausganspunkt für dessen Erfolg zu schaffen. Aus neurobiologischer Sicht kann man sich das Lernsystem eines Menschen - und damit auch das der Mitarbeiter im Team - wie ein Fußballfeld vorstellen: Es gibt die Begeisterungshälfte, die Stresshälfte und als vermittelnde Instanz zwischen ihnen den Präfrontalen Cortex. Der Präfrontale Cortex, der Bestandteil des Frontallappens unserer Großhirnrinde ist, fungiert gleichsam als Schiedsrichter zwischen unseren beiden Lernsystemen.

Das Lernsystem aus Stress und Bewältigung überwacht vom Präfrontalen Cortex
Das Lernsystem aus Stress und Bewältigung überwacht vom Präfrontalen Cortex
Foto: Cassini Consulting

Das Lernsystem Stress

Der Stressbereich unseres Lernsystems ist wertvoll dafür, dass wir lernen, mit gefährlichen Situationen umzugehen. Damit wir wissen, wie wir uns zu verhalten haben, wenn zum Beispiel auf uns als Fußgänger ein Auto von rechts zukommt, oder was zu tun ist, wenn wir eine Präsentation zu halten haben. Solche Situationen und unsere Lernerfahrungen dazu werden über die Amygdala, einen Teil des limbischen Systems im Hirn, abgespeichert und auch von dort wieder abgerufen. Das Stressfeld unseres Lernsystems eignet sich gut, damit wir lernen, Abweichungen zu identifizieren und Fehler zu finden. Die Konsequenz auch für den Berufsalltag: Umsetzungen gelingen über dieses Lernsystem gut, kreative Prozesse aber nicht.

Das Lernsystem Begeisterung

Der Begeisterungsbereich des Lernsystems ist für den Menschen ebenso unverzichtbar. Es diente schon unseren Vorfahren dazu, sich gut Dinge zu merken, die besser waren als erwartet - etwa dass rote Himbeeren leckerer, süßer und nahrhafter sind als grüne. Hier geschieht das Lernen durch ein Belohnungssystem, das durch Dopamin funktioniert. Dieses Dopamin sorgt seinerseits für die Ausschüttung endogener, körpereigener Opiate. Das Resultat ist eine bessere Vernetzung in unserem Hirn - was wiederum die Voraussetzung dafür darstellt, Probleme durch Kreativität zu lösen.

Der kreative Rahmen

Für die kreative Problemlösungsfähigkeit und den Erfolg agiler Teams bedeutet dies: es ist wichtig, dass die Teammitglieder sich selber entfalten und Entscheidungen selbst treffen können - ohne einem Mikromanagement von oben ausgesetzt zu sein. Was es stattdessen braucht, ist ein kreativer Rahmen. Auch die Erfahrung aus unzähligen Projekten zeigt: Insbesondere am Anfang einer agilen Transition ist jeglicher Druck auf ein Team kontraproduktiv. Wenn sich die Mitarbeiter nicht im Begeisterungsbereich des menschlichen Lernsystems aufhalten dürfen, sondern durch das Kontrollbedürfnis und das Mikromanagement ihres Chefs immer wieder in den Stress-Bereich gezwungen werden, wird auch die angestrebte Veränderung ausbleiben. Der kreative Impuls wird dann durch kleingeistigen Stress erstickt.

Den Mitarbeitern vertrauen

Mitarbeiter reagieren bereits auf die bloße Anwesenheit des Chefs. Meist tun sie dies mit Stress, und zwar unabhängig davon, welche kooperative Kultur ein Unternehmen pflegt. Untersuchungen haben gezeigt, dass schon die Anwesenheit des Chefs für hormonelle Umstellungen sorgt und der Cortisolspiegel der Mitarbeiter steigt. Der Neuroendokrinologe und Stressforscher Robert Sapolsky hat diesen Effekt auch in Affenversuchen sehr gut nachgewiesen: Sobald ein Alpha den Raum betritt, steigt unweigerlich der Cortisolspiegel der Betas.
Wenn aber schon die bloße Anwesenheit des Chefs bei den Mitarbeitern zu einer hormonellen Umstellung und zu einem notwendigerweise stressgeprägten Verhalten führt, ist es mit dem Aufenthalt im Begeisterungsfeld vorbei, und im einstmals agilen Team herrscht wieder Stress statt Kreativität. Dies heißt nicht, dass eine Führungskraft sich nicht mehr über das Projekt informieren dürfte, aber eine ständige Kontrolle ist eindeutig kontraproduktiv. Was es zum Gelingen des agilen Projekts dagegen braucht, ist Vertrauen darauf, dass das Team ausgerichtet an den Zielen die richtigen Entscheidungen trifft. So sollte das Team beispielsweise selbst die Tools und Werkzeuge wählen dürfen, die es für richtig hält und die im Unternehmen verfügbar sind. Eine Lernkurve muss dem Team ausdrücklich erlaubt sein.

Gemeinsame Ziele und Belohnung auf Knopfdruck

Durch die Analysen von Daniel Pink (Autor u.a. von A Whole New Mind, 2005) wissen wir, dass kognitiv arbeitende Menschen extrem intrinsisch motiviert sind - und zwar so sehr, dass Motivation von außen sogar kontraproduktiv ist. Das Arbeiten in Teams ist im Wesentlichen durch die intrinsische Motivation getrieben. Die Mitglieder wollen qualitativ hochwertige und technisch exzellente Arbeit leisten und dabei ein lohnenswertes Ziel verfolgen. Im Idealfall lösen die Ziele sogar eine Dopamin-Ausschüttung aus. Sie tun dies unter zwei Bedingungen: erstens, wenn das Ziel großartig genug scheint - wenn gleichsam süßer Saft statt fades Gurkenwasser winkt - und wenn zweitens das Ziel zu 50 Prozent erreichbar ist.
Oft sind Ziele aber einfach nur vorgegeben, anstatt wirklich mit den einzelnen Beteiligten eines Projekts abgestimmt zu sein. Auch vor dem Hintergrund unserer intrinsischen Belohnungsmechanismen ist es viel sinnvoller, gerade auf die individuelle Zielsetzung besonders viel Zeit zu verwenden. Nur wenn in die Projektzielsetzung auch persönliche Ziele des Mitarbeiters einfließen und zum Nutzen des Projekts verwendet werden, dann gibt es Drogen für unser Gehirn. Diese Belohnung bewirkt in unserem Begeisterungslernsystem wiederum den Antrieb. Dopaminmangel übrigens ist auch eine Form motorischer Antriebslosigkeit. Wenn ein Projektmitarbeiter dagegen intrinsisch motiviert ist und individuelle Erfolgserlebnisse hat, dann wird er auch die Möglichkeit ergreifen, an einem neuen Projekt zu wachsen und neue Arbeitsmethoden kennen zu lernen.

Teamräume formen Gedanken

In jeder agilen Literatur wird darauf hingewiesen, und auch die Erfahrung aus der Praxis lehrt es deutlich: Setzen Sie Ihr Team zusammen in einen Teamraum und sorgen Sie so für den notwendigen Rahmen. Reißen Sie falls nötig Wände heraus, stellen Sie Whiteboards und Flipcharts auf. Geben Sie dem Team die Möglichkeit, sich seinen Raum zu schaffen - im wahrsten Sinne des Wortes.
Auch dafür gibt es aus neurobiologischer Sicht gute Gründe. Denn unser Umfeld formt unsere Gedanken. Priming oder Bahnung bedeutet, dass im Gehirn durch einen vorangegangenen Reiz Bedeutungshöfe aktiviert werden, bevor wir den nächsten Reiz verarbeiten. Anders gesagt: Wenn wir uns eine Sache vorstellen, werden die entsprechenden intrinsischen Gedächtnisinhalte aktiviert, und unsere Denken wird in die dadurch vorgegebene Richtung gelenkt. Wer die folgenden drei Wörter nacheinander liest - Morgenstern, Abendstern, Zwergelstern - und sich dann fragt, was ein Zwergel-Stern sei, anstatt beim dritten Wort an Zwerg-Elstern gedacht zu haben (eine Art aus der Familie der Prachtfinken), hat die Folgen des Priming an sich erlebt. Dabei hat solch eine Bahnung auch durchaus positive Effekte: Wenn wir eine physische Umgebung haben, einen gemeinsamen kreativen Raum, der uns in eine Richtung prägt, dann wird sich auch unser Verhalten dahin entwickeln. In einer Großraumsituation ist das Team tatsächlich produktiver. Den Mitgliedern fällt es in der gemeinsamen Umgebung leichter, zusammenzuwachsen und kreativ am gleichen Ziel zu arbeiten.

Fazit: Das Hirn ist, was es ist

In der modernen Berufswelt spielt das Vertrauen in die Mitarbeiter eine viel größere Rolle als früher. Auch der Siegeszug agiler Methoden fördert diese Veränderung. Agilität rückt wieder den Menschen ins Zentrum, indem sie ausdrücklich postuliert, dass Individuen und Interaktionen für den Erfolg entscheidender seien als Prozesse und Werkzeuge. Es zeigt sich: Neurobiologische Einsichten unterstützen diese modernen Ansätze. All jenen Skeptikern und Traditionalisten, die mit vermeintlich rationalistischen Argumenten gegen das Primat des Vertrauens und der kreativen Selbstbestimmtheit in agilen Prozessen polemisiert haben, vermag die naturwissenschaftliche Sicht der Neurobiologie die geeignete Antwort zu geben.

Die Erfahrung aus der Praxis zeigt, was die Neurobiologie untermauert: Agilität funktioniert. Vorausgesetzt, es gibt für die agile Methode den unabdingbaren Support durch das Management, und das Team hat den nötigen kreativen Freiraum und das Vertrauen der Vorgesetzten. Agilität ist kreativer, schneller und erfolgreicher, weil Menschen so sind, wie sie sind. Der agile Ansatz ist pragmatisch genug, die unveränderliche Natur des Menschen anzuerkennen und sie sich zunutze zu machen. Am menschlichen Hirn kann keine Managementtheorie vorbei. (bw)