Posttraumatische Belastungsstörungen

Wie Kriege Karrieren zerstören

26.05.2022
Von 
Hans Königes war bis Dezember 2023 Ressortleiter Jobs & Karriere und damit zuständig für alle Themen rund um Arbeitsmarkt, Jobs, Berufe, Gehälter, Personalmanagement, Recruiting sowie Social Media im Berufsleben.
Der Ukraine-Krieg weckt Ängste. Vielen ist dabei nicht bewusst, dass sich die Traumata des Zweiten Weltkrieges bis heute auf Karrieren auswirken.
Als Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs werden Existenzängste, ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis, übertriebener Ehrgeiz und Minderwertigkeitsgefühle über die Generationen bis heute weitergegeben und hemmen Betroffene in ihrer beruflichen Karriere.
Als Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs werden Existenzängste, ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis, übertriebener Ehrgeiz und Minderwertigkeitsgefühle über die Generationen bis heute weitergegeben und hemmen Betroffene in ihrer beruflichen Karriere.
Foto: Panuwach - shutterstock.com

Der brutale Krieg in der Ukraine mit seinen unabsehbaren Folgen löst weltweit Entsetzen aus. Er wühlt auch Erfahrungen der Eltern oder Großeltern Deutscher aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Als Soldaten, im Bombenhagel oder als Vertriebene haben auch sie diese Traumata erlebt. Das hat in vielen deutschen Familien sogar bis heute Einfluss auf die Karrieren ihrer Kinder und Enkel. Die Münchner Diplom-Psychologin Madeleine Leitner stellt dazu fest: "In den traumatischen Kriegserlebnissen der Familien liegt häufig der entscheidende Schlüssel zum Verständnis von Karriereproblemen der heutigen Generation."

Kriegserlebnisse der Vorgeneration wirken nach

Leitner berät seit über zwei Jahrzehnten Fachkräfte und Führungskräfte, die beruflich unzufrieden sind oder in ihrer Karriere nicht weiterkommen. Dabei beobachtet die Diplom-Psychologin immer wieder merkwürdige Phänomene: manche Klienten litten unter diffusen, objektiv irrationalen Existenzängsten. Andere lebten symbolisch auf "gepackten Koffern". Und nicht wenige klammerten sich an falsche Jobs und blieben weit unter ihren eigentlichen Möglichkeiten. Bei genauerer Betrachtung der familiären Vorgeschichte trat Erstaunliches zutage: Die Kriegserlebnisse der Vorgeneration haben sich unmittelbar auf dieses seltsame Verhalten der Kinder und Enkelkinder ausgewirkt.

So zerbrach ein erfolgreicher Manager fast an seinem übergroßen Ehrgeiz. Sein vermeintlicher Traumjob bei einem extrem renommierten Arbeitgeber macht ihm eigentlich gar keine Freude. Erst vor dem Hintergrund seiner Familiengeschichte wurde ihm klar, wie sehr er unter einem massiven Erwartungsdruck seiner Familie stand. Mit der Vertreibung aus dem Sudetenland hatten seine angesehenen und stolzen Großeltern alles verloren. Ohne sich dessen bewusst zu sein, versuchte der Manager, diese Schmach durch eine glänzende Karriere auszugleichen.

Ein anderer, selbstständig tätiger Mittvierziger vermied es tunlichst, neue Kunden zu akquirieren. Er hatte große Angst, sich dabei zu blamieren. Im Gespräch wurde klar, dass er sich schon als Kind für das peinliche Verhalten seiner Mutter geschämt hatte. Diese, Jahrgang 1944, sei häufig extrem ausgerastet und zeigte typische Züge einer emotional instabilen Borderline-Persönlichkeit, Folge traumatischer Erfahrungen in der Endphase des Krieges.

Madeleine Leitner, Diplom-Psychologin: "In den traumatischen Kriegserlebnissen der Familien liegt häufig der entscheidende Schlüssel zum Verständnis von Karriereproblemen der heutigen Generation."
Madeleine Leitner, Diplom-Psychologin: "In den traumatischen Kriegserlebnissen der Familien liegt häufig der entscheidende Schlüssel zum Verständnis von Karriereproblemen der heutigen Generation."
Foto: Madeleine Leitner

Heute weiß man mehr von den psychologischen Folgen und posttraumatischen Belastungsstörungen, die ein Krieg bei den Betroffenen hervorruft. Die Erlebnisse von Tod und Leid, die Todesängste bei Bombenangriffen, der Hunger, die Not und das Elend. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Betroffenen aber allein gelassen. In der Regel wurde noch nicht einmal mehr darüber gesprochen. Dabei, so Leitner, seien die Folgen bei vielen von uns bereits im täglichen Leben und Verhalten offensichtlich: "Wer kennt beispielsweise nicht den Satz: Der Teller wird leer gegessen. In anderen Ländern gibt es das so nicht. Auch das sind Relikte aus der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele Familien nichts zu essen hatten und fast verhungert wären."

Existenz- sowie Veränderungsängste, ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis, übertriebener Ehrgeiz, Minderwertigkeitsgefühle - all dies wurde über die Generationen bis heute weitergegeben und hemmt viele Betroffene in ihrer beruflichen Karriere. Angesichts solcher Langzeitfolgen von Kriegen, die sich über Generationen fortsetzen, bleibt vor allem die Hoffnung auf ein baldiges Ende des brutalen Angriffskriegs in der Ukraine.

Die Psychologin rät generell, sich selbst einmal folgende Fragen zu stellen:

  • Waren der Vater oder Großvater im Krieg und wo?

  • Wurde darüber gesprochen?

  • War jemand von Flucht und Vertreibung betroffen?

  • Wie wurde die Familie von den Ortsansässigen behandelt?

  • Gab es traumatische Kriegserlebnisse wie den Tod von Angehörigen, schwere Bombardements, den Verlust der Wohnung, Evakuierung, längere Trennungen durch Gefangenschaft?

Biografische Zusammenhänge hinterfragen

Auch die Frage nach den Berufen der Vorfahren und deren wirtschaftlicher Situation können Aufschluss geben: einst wohlhabende und angesehene Menschen erlitten durch Flucht und Vertreibung in der Regel einen massiven sozialen Niedergang. Manchem Nachfahren von Unternehmern wird die "sichere Festanstellung" nahegelegt, ohne dass es den Betroffenen bewusst ist.

Aus ihrer Erfahrung weiß Leitner: "Allein das Wissen über die biografischen Zusammenhänge bringt oft Erleichterung und neue Erkenntnisse für die eigene, aktuelle Situation. Leistungsdruck im Job, ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit oder übertriebener Ehrgeiz, die häufig die Karriere hemmen, werden auf einmal in einen ganz neuen Kontext gesetzt. Und erst dann können die Betroffenen auch beruflich ihren eigenen Weg finden."

Die realen traumatischen Erfahrungen, die solchen Spätfolgen zugrunde liegen, kann man derzeit in den Nachrichten verfolgen, wenn es um die Ukraine geht. (pg)