Strategen und Querdenker

Warum Arbeitgeber Visionäre benötigen

27.11.2018
Von 
Hans Königes war bis Dezember 2023 Ressortleiter Jobs & Karriere und damit zuständig für alle Themen rund um Arbeitsmarkt, Jobs, Berufe, Gehälter, Personalmanagement, Recruiting sowie Social Media im Berufsleben.
"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, sagte einst der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die Münchner Diplompsychologin Madeleine Leitner ist da anderer Meinung. "Wer Visionen hat, zählt vielleicht zu den Menschen, die über eine ausgeprägte Vorstellungskraft verfügen", ist sie überzeugt.

Wer kennt sie nicht? Menschen, die wir schnell als Spinner abkanzeln. Sie warnen ständig vor allen möglichen Risiken, die wir für völlig überzogen oder unrealistisch halten. Sie werfen uns immer wieder vor, dass wir sehenden Auges gegen eine Wand rennen. "Ich habe zahlreiche Klienten, die im Rahmen ihrer beruflichen Karriere immer wieder auf Probleme stoßen. Sie befinden sich oft in der Rolle des tragischen Hiob. Von ihren Kollegen und Vorgesetzten werden sie als chronische Bedenkenträger verspottet und geraten so in eine Außenseiterposition" erzählt Karriereberaterin Madeleine Leitner. "In Wirklichkeit verfügen diese Klienten aber über eine ganz besondere Gabe."

Arbeitgeber sollten das Potenzial der Visionäre nicht ignorieren, der Personen, die ein Gefühl dafür haben, was kommen kann.
Arbeitgeber sollten das Potenzial der Visionäre nicht ignorieren, der Personen, die ein Gefühl dafür haben, was kommen kann.
Foto: Zynatis - shutterstock.com

Wie Madeleine Leitner immer wieder feststellte, verfügen solche Menschen auffallend häufig über ein besonders ausgeprägtes Vorstellungsvermögen. Stehen sie vor einer Aufgabe, laufen vor ihrem inneren Auge filmartige Szenarien ab, wie sich Situationen weiter entwickeln werden. Bei diesen virtuellen Zeitreisen in die Zukunft erkennen sie daher auch alles, was schiefgehen kann.

Darum unterlassen sie viele Dinge bewusst und umschiffen so all die Risiken, die andere ungefiltert eingehen. Dass bei ihnen allerdings nur deshalb alles glatt läuft, weil sie diese Gabe besitzen, ist ihnen selbst nicht bewusst: vielmehr gehen sie davon aus, dass jeder diese Fähigkeit besitzt und dass sie daher nichts Besonderes tun.

Insbesondere in der Zusammenarbeit mit ihren nichtsahnenden Mitmenschen kommt es dann zu typischen Konflikten. "Bildhaft gesprochen sehen Menschen mit Vorstellungskraft, wie andere offenen Auges auf den Abgrund zulaufen. Sie können sich nicht im Ansatz vorstellen, dass andere ihn nicht sehen. So verzweifeln sie ständig an der Kurzsichtigkeit ihrer Kollegen und Chefs, diese umgekehrt an deren scheinbar absurden Einwänden und Ideen. Erst mit großem Abstand erweist sich, dass die Einwände berechtigt waren", so die Münchner Karriereberaterin.

Wenn die "Visionäre" jedoch verstanden haben, dass sie eine Gabe haben, über die andere nicht verfügen, können sie ihr großes Potenzial auch entsprechend nutzen. Ihre Fähigkeit, Bilder vor dem inneren geistigen Auge zu entwickeln, prädestiniert diese Menschen nämlich für bestimmte Aufgaben. Sie sind die geborenen Strategen, deren Pläne auch aufgehen und bei denen nichts schiefgeht.

Karrierecoach Madeleine Leitner: "Visionäre verzweifeln an der Kurzsichtigkeit ihrer Chefs und Kollegen."
Karrierecoach Madeleine Leitner: "Visionäre verzweifeln an der Kurzsichtigkeit ihrer Chefs und Kollegen."
Foto: Madeleine Leitner

Gleichzeitig sind sie aber auch die geborenen Querdenker und Erfinder. Durch ihr Vorstellungsvermögen können sie sich von Konventionen lösen und neue Lösungsansätze entwickeln, auf die andere nie gekommen wären. Der deutsche Naturwissenschaftler August Kekulé etwa entschlüsselte die chemische Struktur von Benzol als Ringstruktur in einem Traum, in dem sich eine Schlange in den eigenen Schwanz biss. Und auch Albert Einstein schätzte bei seiner wissenschaftlichen Forschung Phantasie sogar wichtiger ein als Wissen.

Als modernes Beispiel für einen Visionär gilt der verstorbene Apple-Chef Steve Jobs. Er erdachte völlig neuartige Ansätze wie die "Wisch-Funktion". Während andere Handy-Hersteller noch auf die Entwicklung immer kleinerer Mobiltelefone setzten, arbeitete er an Smartphones und Tablets und erntete anfangs dafür sogar noch Spott.

Wie können Sie nun herausfinden, ob Sie eine besondere Fähigkeit zur Imagination haben? Der erste Schritt besteht aus Leitners Sicht darin, dass sich die Betroffenen ihre Gabe selbst bewusst machen. Diese Fragen bieten einen ersten Hinweis:

  • Können Sie sich im Kopf vorstellen, wie ein bestimmtes Möbelstück in einem anderen Raum aussieht?

  • Haben Sie beim Kofferpacken immer das Richtige dabei?

  • Klappt bei Ihnen immer alles wie am Schnürchen?

  • Stoßen Sie mit Ihren Ideen häufiger auf Unverständnis, behalten im Nachhinein mit Ihren Prophezeiungen aber fast immer Recht?

  • Ärgern Sie sich oft über die Dummheit Ihrer Mitmenschen, die nicht weiterdenken als bis zu ihrer Nasenspitze?

Wenn Sie diese Fragen zustimmend beantworten konnten, zählen Sie womöglich zu den geborenen Visionären und Strategen. "Dann", so rät Madeleine Leitner, "sollten Sie Ihr Talent noch bewusster einsetzen. Konflikte können Sie entschärfen, indem Sie Ihre Gabe Ihren Mitmenschen erklären und Beispiele bringen, bei denen Sie mit Ihren Prophezeiungen entgegen allen Unkenrufen letztlich Recht hatten. Indem Sie so quasi eine Gebrauchsanweisung für sich selbst geben, erfahren Sie mehr Verständnis in Ihrem privaten und beruflichen Umfeld, was Ihnen völlig neue Möglichkeiten eröffnen kann."