Stasi 2.0

Smartphone-User als Radar-Hilfssheriffs

12.04.2022
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
Mit der App „Speedcam Anywhere“ will eine obskure Organisation Bürger dazu animieren, als Hilfspolizisten zu fungieren. Sie sollen per Smartphone Autofahrer „blitzen“.
Per App sollen Smartphone-Nutzer Geschwindigkeitssünder "blitzen".
Per App sollen Smartphone-Nutzer Geschwindigkeitssünder "blitzen".
Foto: Speedcam Anywhere/Google Play Store

Geschwindigkeitsüberschreitungen einfach per Smartphone dokumentieren und als digitaler Blockwart 2.0 seine Mitbürger anschwärzen? Genau dies soll die App "Speedcam Anywhere" mit Hilfe von KI-Unterstützung ermöglichen. Oder, wie es die Programmierer der App laut The Guardian erhoffen, Speedcam Anywhere soll "Anwohnern, Fußgängern und Radfahrern die Möglichkeit geben, Verkehrsdelikte in ihrer Umgebung zu dokumentieren, um die Polizei zu ermutigen, Geschwindigkeitsübertretungen ernster zu nehmen."

Mit dem Handy blitzen

Um die Geschwindigkeit eines Autos zu messen, muss der Nutzer die App öffnen und das vorbeifahrende Autofilmen. Anhand des Nummernschilds des vorbeifahrenden Fahrzeugs durchsucht die App dann - zumindest in Großbritannien - die öffentliche Zulassungsdatenbank der DVLA, um die Marke und das Modell des Fahrzeugs zu ermitteln. Mit diesen Daten wird dann der Abstand zwischen den Achsen des Autos ermittelt und mit dem Filmmaterial verglichen, um die Geschwindigkeit zu berechnen. Der Benutzer hat anschließend die Möglichkeit, das Video zu speichern oder einen Bericht zu erstellen, den er mit den Behörden teilen kann.

So funktioniert die Speedcam

Glaubt man den Programmierern, dann hat die App eine Genauigkeit von plus minus zehn Prozent - vorausgesetzt, die App wird richtig bedient. Dazu muss die App ein klares Bild des gesamten Fahrzeugs erhalten. Ferner wird eine klare Sicht auf die Räder und das Nummernschild benötigt, um eine genaue Messung durchzuführen. Des Weiteren sollte die Kamera des Smartphones in einem Winkel von etwa 45 Grad auf die Straße gehalten werden, um optimale Ergebnisse zu erzielen. Zudem muss das Handy während der Aufnahme zwei Sekunden lang stillgehalten werden. Regen, schlechtes Licht und ein größerer Abstand zum Fahrzeug verringern, so die Anbieter, die Wahrscheinlichkeit, dass die Aufnahme gelingt.

Die Funktionsweise der App.
Die Funktionsweise der App.
Foto: Speedcam Anywhere

Allerdings ist die Nutzung der App nicht kostenlos. Die User benötigen sogenannte Credits für eine Messung. Damit wollen die Programmierer die AI-Nutzung finanzieren, da diese teuer sei. In Großbritannien kosten 1.000 Credits knapp 15 Pfund und sollen für 100 Messungen im genauen Pro Mode reichen und für 1.000 im weniger akkuraten Basic Mode. Da die App in zahlreichen Ländern wohl gegen die geltenden Datenschutzbestimmungen verstößt, ist die App derzeit nur im Google Play Store in Großbritannien zu finden. Eine iOS-Version ist noch nicht verfügbar, da Apple sie noch nicht für den Vertrieb freigegeben hat.

Offen ist, wer hinter der App steckt. Glaubt man dem Guardian, dann entwickelte die App ein Team von KI-Wissenschaftlern, die in Unternehmen im Silicon Valley und an britischen Universitäten tätig sind. Verifizieren lässt sich dies allerdings nicht, da auf der Website von Speedcam Anywhere ein Impressum oder andere Angaben fehlen. Dies begründen die Erschaffer der App damit, dass sie die bösartige Reaktion der Autofahrer in die Anonymität gezwungen hätte. So hieß es in einer Online-Bewertung der App: "In Ostdeutschland wurden die Bürger ermutigt, ihre Nachbarn bei der Stasi zu melden, wenn sie auch nur das kleinste gesellschaftliche Vergehen begangen hatten. "Herzlichen Glückwunsch" zur Schaffung einer modernen Version davon. Diese App ekelt mich an."